Der natürlichste Weg

II

Zuletzt sprach ich zu euch über das Licht und die Stimme Gottes, die sich beide im Tempel Gottes befinden, der wir sind. Das würde ein Mensch der Erkenntnis sagen, denn Er hat es tatsächlich in Sich Selbst erfahren. Ganz anders wäre es bei einem Verstandesmenschen, der keine direkte Erfahrung von der Wirklichkeit hat. Trotz all seines Wissens und seiner Kenntnis der lediglich äußeren Formen und Bräuche, Riten und Rituale weiß er so gut wie nichts von Spirituellen Dingen und redet darüber entsprechend Seinen Erfahrungen auf menschlicher Ebene. Einer mit Innerer Erkenntnis jedoch beseitigt scheinbare Schwierigkeiten, gibt uns eine Erfahrung von der Wirklichkeit und vertreibt alle Zweifel; denn wenn man die Dinge wirklich selbst sieht, bekommt man eine tief wurzelnde Überzeugung, die sich aus der praktischen Erfahrung ergibt.

Christus sagt uns:

Wenn dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib Licht sein.

Das Licht Gottes ist in jedem von uns und darum auch das Einfältige Auge. Aber wie man dieses entwickelt und wie wir das Licht Gottes bezeugen können, ist das Problem, welches wir in uns lösen müssen, und niemand außer einem Lebenden, Kompetenten Meister kann es für uns tun, Der wie Christus tatsächlich Selber eine lebendige Erfahrung davon hatte und sie uns durch eine untrügliche Erfahrung gleichfalls offenbart.

Alle Schriften berichten uns im günstigsten Fall von den Spirituellen Erlebnissen der Meister: was Sie im Inneren schauten und auf welche Weise. Jene, die nicht dieselben Erfahrungen gemacht haben, können uns die Schriften nicht einmal richtig erklären. Sie würden nur vom Hundertsten ins Tausendste kommen und den wichtigsten Teil nicht verstehen, denn es ist keine Sache intellektuellen Begreifens. Die Intellektuellen sammeln sich oft um die Meister und stellen Ihnen törichte Fragen. Und was sagt ihnen der Meister?

Einmal kamen einige studierte Leute zu Shamas-i-Tabrez, einem persischen Heiligen. Er sagte ihnen offen:

Meine Freunde, wenn ihr die Mitternachtssonne seht, seid ihr sehr willkommen. Wenn nicht, dann vergeudet weder eure noch meine Zeit.

Sie waren verwirrt. Was konnte Er mit der Mitternachtssonne meinen? Sie wandten ein:

Die Sonne ist nur tagsüber zu sehen, nicht bei Nacht!

Der Weise erwiderte:

Die Sonne, von der ich spreche, geht niemals unter; und nur diejenigen sehen ihre Pracht, deren Herzen rein sind.

Eine sehr ähnliche Begebenheit ist aus dem Leben Guru Nanaks, des indischen Mystikers, bekannt.

Eines Nachts erklärte Er, dass die Sonne am Himmel strahle. Seine Familie dachte, Er sei irrsinnig geworden. Als Sein geliebter Schüler Bhai Lena – Der als Guru Angad Seine Nachfolge antrat – zu Ihm kam, wiederholte Guru Nanak, was Er vorher bemerkt hatte:

Die Sonne strahlt am Firmament.

Und Bhai Lena sagte ohne Zögern:

Ja, mein Meister, so ist es.

– Wie hoch steht sie?,

war die nächste Frage, und Er antwortete sogleich:

So hoch, wie es Euch beliebt.

Diese Beispiele habe ich aus den Heiligen Büchern angeführt. Nun will ich euch einen ähnlichen Vorfall nennen, von dem ich selbst Zeuge wurde.

Mein Meister Baba Sawan Singh Ji fragte einmal während Seiner letzten Krankheit jene, die bei Ihm waren, ob die Leute in den Nachbarstädten die Sonne sehen könnten, die Er erblicke. Jedermann dachte, Er habe Seinen Verstand verloren, und der behandelnde Arzt, ein bekannter Schweizer Homöopath, erklärte, dass der Meister an Urämie leide, das heißt, Harngift Sein Gehirn angreife.

Als ich Ihn am Abend besuchte, lachte Er herzlich und stellte mir die gleiche Frage.

Sieh, die Sonne steht am Himmel. Sehen das auch die Leute, die an anderen Orten leben?

Ich antwortete:

Meister, die Entfernung ist unwesentlich. Ein Mensch mag in Amerika oder Europa sein; wenn er sich nach innen kehrte, würde er das Licht Gottes sehen.

– Das ist richtig,

sagte mein geliebter Meister.

Hinweise auf dasselbe Licht finden sich in der heiligsten Hymne der Veden, dem Gayatri Mantra. Sie spricht von Savitar oder der im Innern scheinenden Sonne und ermahnt die Frommen, sich dem alles in sich aufnehmenden Einfluss dieses strahlenden Himmelskörpers zuzuwenden. Aber wie viele von uns, die täglich dieses Mantra aufsagen, kennen seine Bedeutung und praktizieren jemals das, wovon die Veden sprechen?

Gott ist Licht, strahlender als das Licht unzähliger Sonnen zusammengenommen, ein Licht, das zugleich unerschaffen und schattenlos ist, sehr liebreich, sehr beruhigend, ein Licht, das nie auf Meer oder Land zu finden war. Es ist immer da. Doch weil wir auf der Sinnesebene den äußeren Dingen zugewandt sind, können wir Es nicht sehen. Um es wahrzunehmen, müssen wir uns nach Innen wenden und über das Körperbewusstsein erheben. Es muss somit praktiziert werden.

Eine Begebenheit im Leben Kabirs macht den Unterschied zwischen einem rein intellektuellen Menschen und einem solchen der Praxis sehr deutlich. Einmal kam ein gelehrter Pandit zu Ihm, um eine sinnlose Diskussion zu führen.

Der Weise wehrte ab und erklärte:

Mein kluger Freund, warum diskutieren, wenn wir niemals hoffen können, einer Meinung zu sein? Du sprichst von etwas, das du nicht gesehen, sondern worüber du nur gelesen hast; während ich von dem spreche, was ich gesehen habe.

Jesus Christus sagte einmal:

Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: wir reden, was wir wissen, und zeugen, was wir gesehen haben.

Einer der Sikh-Meister sagte auch dasselbe:

Hört auf das Wahre Zeugnis der Heiligen, denn Sie sprechen von dem, was Sie gesehen haben.

Natürlich wird der Mensch, der die Wirklichkeit geschaut hat, sagen:

Ich habe sie gesehen und weiß, was sie ist!

Er spricht mit fester Überzeugung und Gewissheit. Es ist Kraft und Gewicht in dem, was er sagt. Wenn man erfahren hat, was er beschreibt, kommen die Worte aus der Überfülle des Herzens und haben dadurch ihre eigene Beweiskraft. Eine Atmosphäre der Sicherheit und Bestimmtheit geht von ihnen aus, die keinerlei Zweifel und Argwohn zulässt.

Kabir sagt weiter:

Ich sage den Menschen, dass sie von ihrem Schlummer aufwachen sollen.

Es bedeutet, dass wir schlafen. Aber wie? Tatsache ist, dass wir, was die Wirklichkeit im Innern anbelangt, schlafen, denn unser Inneres Auge ist noch nicht geöffnet, und wir haben das Licht Gottes nicht gesehen. Wir haben uns noch nie über das Körperbewusstsein erhoben, niemals das Einfältige Auge entwickelt, welches allein ins Jenseits dringt. Wir schlafen sozusagen innerlich und sind mit unserem Körper und den körperlichen Eindrücken identifiziert. Wir führen ein oberflächliches Leben auf der Sinnesebene. Aus diesem Grunde fordert uns Kabir auf, aus dem unheilvollen Bann der Sinne zu erwachen.

Auch die Veden sagen das:

Erwacht, erhebt euch und ruht nicht, bis das Ziel erreicht ist.

Dies heißt, dass sich unser Ziel woanders befindet und wir uns dessen nicht einmal bewusst sind; und dass es für uns hohe Zeit ist, davon zu erfahren und uns darum zu bemühen.

So sehen wir, dass auch die Rishis der alten Zeit die gleichen Worte wie Kabir gebrauchten.

Der fünfte Meister der Sikhs betont dasselbe:

Erwache, o Reisender, und eile deinem Ziel entgegen, das weit entfernt liegt!

Was für eine lange Reise haben wir vor uns! Und doch wissen wir nichts davon.