Satsang in Sabzimandi

von einem englischen Initiierten

Es war am zweiten Tag des Monats April und schon um 7 Uhr früh versprach das Wetter eine Steigerung der Temperatur, noch bevor die Sonne sehr hoch stehen würde. In Sabzimandi, am Stadtrand von Delhi, hatten sich im schützenden Schatten eines großen Leinwand-Zeltdaches eine Menge Menschen versammelt. Da waren Alte und Junge, Arme und Reiche, Einfach Denkende und Intellektuelle. Alle saßen sie zusammen mit gekreuzten Beinen auf Sackleinen und Matten, die unter dem Zeltdach ausgebreitet waren. Mohammedaner und Hindus, Sikhs und Christen saßen Ellbogen an Ellbogen und Knie an Knie, ohne Unterscheidung der Kaste oder des Glaubens, keine Hassgefühle, kein Übelwollen oder gar Feindschaft konnte man bei dieser bunt zusammengewürfelten Menge, die man in dieser Art und Zusammensetzung heute wohl kaum irgendwo sonst auf der Welt findet, wahrnehmen. Sicherlich würde es schwer sein, eine Versammlung von ungefähr 5.000 Menschen von so abweichenden und unterschiedlichen religiösen Glaubensrichtungen, Kasten und Verbindungen zu finden, die soviel Toleranz gegeneinander übt, wie diese Männer und Frauen hier es tun.

Offensichtlich sollte etwas Großes geschehen. Etwas von allgemeiner Bedeutung; zumindest aber etwas, das von ausreichendem Interesse für diese ergebenen Menschen war, von denen viele nach langer und mühsamer Reise ihre Plätze bereits in der Nacht vorher eingenommen hatten. Sie ersehnten gleichsam für ihre Geduld und Ausdauer eine Belohnung. Ich brauchte nicht lange auf Antwort zu warten, denn in der Tat war mir diese bereits bekannt. Wo ich stand, konnte ich ein weites farbenprächtiges Meer überschauen. Die vielfarbigen Turbane der bärtigen Sikhs und gelehrten Pandits, die schneeweißen Turbane der älteren Herren, die bunten Kleider der einfachen Bauern und die schönen, weichen Farben der Schleier, die von den modernen Frauen getragen wurden, alles das war dazu angetan, ein Bild lebhafter Farbenpracht hervorzubringen, das wiederzugeben nur ein Künstler imstande wäre.

Bald verursachte eine Bewegung an der einen Seite der Menge die Menschen, sich umzudrehen und ihre Köpfe nach jener Richtung zu wenden. Die Gesichter leuchten erwartungsvoll auf. Ein Murmeln entschlüpfte ihren Lippen: „Der Meister kommt.“ Die Hände vor der Brust zum üblichen Gruß zusammengelegt, erhoben sich Tausende von Menschen.

Eine weißgekleidete Gestalt mit weißem Turban und mit einem grau-weißen Bart war erschienen, umgeben von einer kleinen Schar aufgeregter Leute. Der Grund für diese riesige Versammlung wurde auf einmal auch jenen klar, die vielleicht nur aus Neugierde dorthin gekommen waren. Meister Kirpal Singh, Nachfolger des Meisters Baba Sawan Singh und spiritueller Führer einer großen Gemeinschaft von Satsangis, die dem Surat Shabd Yoga ergeben sind, war gekommen, um zu den Versammelten zu sprechen. Eine Anzahl weniger disziplinierter Anhänger des Meisters warf sich vor Ihm auf die Erde und hielt Seine Füße und Kleider fest oder versuchte auf verschiedene Art und Weise ihre Ergebenheit zu bekunden. Der Meister liebt das nicht, doch obwohl Er sie wiederholt bittet, Sich nicht so zu benehmen, werden sie immer wieder durch das Übermaß ihrer Liebe zu Ihm fortgerissen.

Am jenseitigen Ende unter dem Zeltdach stand ein erhöhtes Podium, das mit einem schneeweißen Leintuch bedeckt war. Der Meister nahm diesen erhöhten Sitz mit gekreuzten Beinen ein, nachdem Er Sich mit einiger Schwierigkeit aus den Händen der erregten Menge befreit hatte. Zu seiner Linken saß Pratap Singh, der Musikmeister, der damit begann, Verse aus dem Granth Sahib vorzutragen, der heiligen Schrift der Sikh-Religion. Er hatte eine sehr schöne und anziehende Stimme und die Wiedergabe der religiösen Verse entrang vielen aus dieser schweigenden Versammlung tiefe Seufzer.

Der Meister ging jeden Vers genau durch und interpretierte und kommentierte ihn auf Seine Weise und fähige Art. Es war kein Vortrag, den  Er hielt, vielmehr fand ein Gespräch von Herz zu Herzen statt, das von Jung und Alt, vom Intellektuellen und vom einfach denkenden Mann gleicherweise verstanden wurde, das aber dennoch die tiefsten religiösen und philosophischen Begriffe in sich barg.

Der Meister hatte mich freundlicherweise mit einem Dolmetscher versehen, der zugleich einer Seiner eifrigsten Schüler war. Seine kraftvolle und lebhafte Übersetzung der sanften und ohne Eile gesprochenen Worte des Meisters verursachte häufig unwillige Blicke aus der Menge in unsere Richtung. Zuweilen kam es vor, dass seine eifrige Stimme sich hinziehend in der tiefen Stille, die einer besonders schönen Bemerkung des Meisters folgte, verlor. In diesen Augenblicken konnte ich das Wogen der Kraft empfinden, die auf die Zuhörerschaft ausgestrahlt wurde, und ich vermochte meinem Dolmetscher keinen Vorwurf zu machen. Bei diesen Gelegenheiten waren Worte überflüssig.

Hin und wieder blickte ich in die Runde und bemerkte, mit welch begeisterter Aufmerksamkeit die Menge auf jedes Wort lauschte. Einige nickten von Zeit zu Zeit zustimmend mit dem Kopf, einige weinten sogar, so sehr waren sie durch ihre Gefühlsregungen mitgerissen, während jeder Anwesende Innere Erleuchtung ausdrückte, da die Weisheit des Meisters ihre Seelen direkt anrührte.

Der Vortrag dauerte drei Stunden, doch bin ich überzeugt, dass die Menschen ohne weiteres bereit gewesen wären, weitere drei Stunden mit gekreuzten Beinen auf dem harten Boden zu sitzen, um dem Meister zuzuhören.

Um 4 Uhr sollte ein weiterer Vortrag gehalten werden und obwohl sich der größte Teil der Menge in verschiedene Richtungen zerstreut hatte, war doch ein großer Teil entschlossen, dazubleiben, um in der Zwischenzeit das frugale Mahl einzunehmen, das sie sich mitgebracht hatten. Mein Dolmetscher übersetzte von Zeit zu Zeit Bruchstücke aus ihrer Unterhaltung. Sie waren alle sehr glücklich und das Gespräch drehte sich um den Vortrag, den sie gehört hatten. Neu Dazukommende erkundigten sich nach der Initiation und ihre Herzen waren erfüllt von Freude, als man ihnen sagte, dass der Meister am folgenden Morgen jene, die den spirituellen Pfad betreten wollten, initiieren würde.

Dies mochte ein sehr wichtiger Anlass für jedermann sein, weil es nicht allein der ‘Initiationstag’ war, sondern zugleich der Gedenktag des Hinscheidens eines Großen Heiligen. Meister Baba Sawan Singh, der geliebte Guru Tausender von Satsangis, hatte Seinen verehrungswürdigen Körper an diesem Tag vor 4 Jahren (1948) verlassen und Meister Kirpal Singh, Der Sein einziger Kompetenter Spiritueller Nachfolger ist, war im Begriff, aus diesem Anlass eine Ansprache zu Seinem Gedenken zu halten. Nach dieser Rede sollten die Leute eingeladen werden, die Initiation zu erhalten. Kein Wunder, dass sich ein Stimmengewirr erhob und die Gesichter glänzten und dass kleine Gruppen von Menschen religiöse Lieder sangen.

Eine ganze Nacht hindurch war der Meister beschäftigt gewesen, in Seinem kleinen Häuschen Besucher aus nah und fern zu empfangen, während Seine ergebene Schülerin und Wirtschafterin, Madame Hardevi, unaufhörlich um die leiblichen Bedürfnisse dieser Menschen besorgt war. Im Verlaufe des Abends und des frühen Morgens hatte sie über tausend hungrige Menschen gespeist; andere bereitwillige Helfer hatten auf einem freien Platz neben dem Häuschen einige Zelte aufgeschlagen, um denjenigen Obdach zu geben, denen es nicht gelungen war, eine Unterkunft zu finden, die aber den Wunsch hatten, diese beiden Tage zu bleiben.

Bald war es vier Uhr und die Menge war seit dem Morgen beträchtlich angewachsen. Sturmwolken hatten sich zusammengezogen und die Hitze war zum Ersticken und beinahe unerträglich. Die Frauen wedelten mit den Fächern; es war sehr heiß unter dem riesigen Zeltdach. Der Meister war noch nicht eingetroffen, aber Mr. Chet Ram, Schüler des Meisters Baba Sawan Singh, hielt eine kurze Rede, in der er erklärte, woran eine Große Seele zu erkennen sei … Sie sollte fähig sein, uns Licht zu geben und die Finsternis, die vor unseren Augen wegzunehmen, Sie sollte die Güte selbst sein … vor allem aber sollte Sie praktisches Wissen und Erfahrung der Gott-Verwirklichung haben.

Kurz darauf erschien der Meister und sprach wieder zur Menge. Die Hitze war vergessen; die Fächer senkten sich und jeder war erneut von der Stimme des Meisters begeistert. Nach einer Weile fing es zu regnen an. Erst vereinzelte Tropfen, dann kam plötzlich ein starker Guss.

Das Zeltdach fing das Wasser eimerweise auf; es lief wie durch ein großes Sieb auf die Menschen herab, die darunter waren. Da forderte sie der Meister auf, sich zu einer angrenzenden Veranda zu begeben. Für einen kurzen Augenblick gab es ein Durcheinander, als es so herunter goss und alle der freundlichen Veranda zustürmten, wo sie dann begannen, Hymnen zu singen. Es war wunderbar, hier zu sitzen und den tausenden Stimmen zu lauschen, die ihre religiösen Lieder sangen. Es hatte eine beruhigende Wirkung auf mich und ich war wie weggetragen durch die Gefühle, die diese fremdartigen Laute, die ich nicht verstand, in mehr erweckten. Mein Freund versuchte die Gesänge zu übersetzen, aber ich winkte freundlich ab, und so saßen wir beide ruhig da und nahmen diese wundervolle Atmosphäre in uns auf.

Danach sang Madame Hardevi ein Lied, das Meister Kirpal Singh zum Lobpreis Seines Meisters verfasst hatte. Alle wurden ganz still, als sie das Lied begann. Ihre starke, feste Stimme schwankte ein paarmal vor unterdrückter Bewegung und noch bevor sie zu Ende kommen konnte, blieb sie stecken und weinte, ohne sich dessen zu schämen. Sie war Meister Sawan Singh sehr ergeben, Der eine vollkommene physische und spirituelle Wandlung ihres Lebens bewirkt hatte; auch in der Menge waren Männer und Frauen still und mitfühlend.

Für 7 Uhr war eine Filmvorführung angesetzt und als es zu regnen aufhörte, wurde am jenseitigen Ende des Zeltdaches eine transportable Leinwand aufgestellt. Alle versammelten sich wieder unter dem Zelt und  schauten eifrig nach vorne. Aufgeregte Stimmen plauderten und summten in der kühlen Abendluft. Schließlich fing der kleine Projektor zu laufen an und alle wandten sich der Leinwand zu. Es war ein kurzer Farbfilm, der vor Meister Sawan Singhs Weggang aufgenommen worden war und Ihn zeigte, wie Er an den verschiedene Handlungen bei einer Hochzeit in Wazirabad teilnahm … wie Er zu einer großen Versammlung sprach … wie Er den Bräutigam bekränzte … und wie Er Sich zwischen den vielen Menschen, die bei dieser Feier zugegen waren, bewegte.

In der Erregung riefen einige Stimmen eine Begrüßung dazwischen. Die Menschen beugten ihre Köpfe in Ehrfurcht und Verehrung und alle reckten die Hälse, um einen Blick dieses Großen Meisters zu erhaschen. Ich befand mich im Hintergrund der Menge, und obwohl ich größer bin als der Durchschnittsinder und auf den Zehenspitzen stand, konnte ich nur gelegentliche Blicke auf den weißgekleideten, weißbärtigen, Heiligen Mann werfen, Der Sich mit solcher Würde bewegte und dennoch mit einem solch freundlichen Gesichtsausdruck und einem Zwinkern in Seinen Augen. Sein langer, weißer Bart glänzte gleich einem Heiligenschein und der fleckenlos weiße Turban, den Er trug, sah aus wie eine Lichterkrone auf Seinem Kopf. Er bewegte sich mit einer ungeheuren Anmut und Leichtigkeit für einen älteren Menschen und immer war dieses strahlende Licht in Seinen Augen und der gütige Ausdruck in Seinem Gesicht.

Dann wurde mein Blick wieder versperrt durch sich bewegende Köpfe und der Film ging unter den zahlreichen Seufzern aller zu Ende – ein vollkommener Tag neigte sich seinem Ende entgegen. Glücklich und vor sich hinsummend, begannen sich die Leute heimwärts zu bewegen. Eine Menge umringte den Meister, als Er vergebens versuchte, Sich einen Weg nach der Stelle zu bahnen, wo ein kleiner Wagen wartete, um Ihn zu Seinem Heim zu bringen. Mit großer Mühe gelang es Ihm endlich, das Auto zu erreichen. Doch es wurde gleich wieder von allen Seiten von den aufgeregten Satsangis belagert. Es dauerte eine lange Zeit, bevor sie sich trennten und es Ihm ermöglichten, ihrer überwältigenden Freude und Begeisterung zu entrinnen.

Auch ich brachte es schließlich fertig, mich durch diese drängende, wogende Menschenmasse hindurchzukämpfen und mich auf den freien Sitz eines Jeeps zu setzen, der einigen unserer Freunde gehörte. Nach endlosem Gestikulieren gelang es uns, einen Weg durch diese Menschenmenge zu bahnen und bald brauste der unter der Last von mehr als 15 Personen stöhnende Jeep los, auf in die Nacht hinein. Keiner sprach ein Wort, aber alle waren noch beseligt durch die Ereignisse dieses sehr denkwürdigen Tages. Und als sich die Menge zerstreute, schlug manches Herz höher vor Aufregung bei dem Gedanken an den Morgen, an welchem sie das wunderbare Gotteslicht wirklich sehen und erleben sollten, von dem der Meister gesprochen hatte.