Buch II / XI

Ton und Licht

In der Welt gibt es zwei Dinge, die dem müden Wanderer auf seiner einsamen Reise in die pechschwarze Nacht als Führer dienen, nämlich Ton und Licht (Kalam und Nur). Sie sind auch die beiden Hilfen auf dem Spirituellen Pfad, außerdem sehr nützlich und leicht zu handhaben. Jede von ihnen hat ihren eigenen Zweck. Wir haben das Göttliche Licht in uns, und aus ihm geht der Ton hervor; beide zusammen werden als der Flammende Ton oder auch die Tönende Flamme beschrieben.

Wenn der Geist auf den Ton abgestimmt ist, wird er gelöst und ganz von Ihm in Anspruch genommen. Im Kern des Inneren Lichtes ist dieser wundervolle Ton, der uns gänzlich in Gott versinken lässt.

Guru Nanak, Sorath M1

Unbegreiflich ist das Wirkliche.

 

Guru Arjan, Gauri M5

Ohne das Licht von Shabd herrscht im Innern völlige Dunkelheit und wir können die Wirklichkeit nicht erreichen oder den Kreislauf beenden.

Guru Amar Das, Majh M3

Ohne Shabd liegt alles im Dunkeln; durch das offenbarte Shabd kam die Welt ins Sein.

Guru Ram Das, Sarang War M4 

Alles Leben und alle Kraft kommt von Shabd. Von der Sonne bis zur Kerzenflamme geht alles Licht von diesem Großen Kraftwerk aus. Die Energie des Wissenschaftlers und die Pranas der Yogis sind nichts weiter als Offenbarungen dieses Lebensstromes, der gleich der Elektrizität in der Luft alles durchdringt und voller Kraft ist.

In Ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheinet in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht begriffen […] Das war das wahrhaftige Licht, welches alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen. Es war in der Welt, und die Welt ist durch dasselbige gemacht; und die Welt kannte Es nicht.

Johannes 1:4-5, 9-10

Der Heilige Augustin berichtet uns, wie sich in Ihm das Licht offenbarte:

Ich trat geradewegs in mein Inneres Selbst. Du, Der Du mein Führer bist und befähigt, wie ich war: denn Du wurdest zu meinem Helfer. Und ich trat ein und erblickte – mit dem Auge meiner Seele (so wie es war), oberhalb desselben Auges meiner Seele, oberhalb meines Gemütes – das unveränderbare Licht. Nicht dies gewöhnliche Licht, auf welches alles Fleischliche schauen mag, noch dass es ein größeres gewesen wäre, der gleichen Art, so als ob die Helligkeit dessen mannigfach heller sein möge und mit seiner Größe allen Raum einnähme. Nicht so war das Licht, doch anders, jawohl, ganz anders als all diese […] Der, der die Wahrheit kennt, weiß, was dieses Licht ist, und der, der Es kennt, kennt die Ewigkeit.

Freie Übersetzung aus:
Confessiones – Buch VII, X.,
von Augustinus

Sant Kabir erklärt uns, dass die Seele ohne Shabd blind ist und den Pfad nicht kennt.

Ohne das Wort ist man blind und weiß den Weg nicht, ohne den Weg hinaus wandert man im endlosen Kreislauf.

Vor Tausenden von Jahren lehrte Zoroaster den Kult der Verehrung des Lebensfeuers, und selbst heute noch sehen wir Spuren davon in dem symbolischen Feuer, das die Parsen in ihren Heimstätten brennend halten. Als Gautama zum Buddha oder dem Erleuchteten wurde, lehrte Er Seine Anhänger den Pfad des Lichts.

Alle Propheten des Ostens wie des Westens, die den Prozess der Umkehrung praktizierten und den Seelenstrom nach Belieben zurückzogen, sprachen von diesen beiden Erfahrungen des Lichts und Tones. Wenn die Seele auf dem Spirituellen Pfad fortschreitet, geht das Sehvermögen dem des Gehörs voraus, denn Licht ist schneller als Ton.

Wenn auch die Seele durch Gemüt und Materie gefangen ist, ist sie dennoch, unabhängig von den Sinnesorganen, mit der subtilen Fähigkeit des Sehens und Hörens ausgestattet; und wenn beide entwickelt werden, lässt sich der Lebensstrom vom Körper zurückziehen, und man kann sich in den höheren Spirituellen Bereichen frei bewegen und entgeht so ein für allemal der Bindung an die Welt.

Unter der Führung des Sehvermögens werde ich Sat Lok erreichen.

Swami Shivdayal Singh

Zu Beginn erscheint das Licht zuerst und Ihm folgt der Ton. In der Praxis üben wir zuerst Simran und Dhyan und dies darum, weil sie den Boden für die weitere Entwicklung bereiten. Obgleich jedes seinen ganz eigenen Zweck erfüllt, werden doch beide für die Ankunft des Tones ausgeübt, von wo die wirkliche Hilfe kommt. Shabd ist dann der beherrschende Grundstein des Bogenganges von Simran und Dhyan, den beiden Seiten des Gewölbes. Wiederum gibt es auf der Spirituellen Reise Stufen, wo die Seele verwirrt wird durch das blendende Licht, dass von allen Seiten um sie herunter fließt, und da hilft nichts als der Ton, sie hindurchzuziehen.

Und deine Ohren werden hören hinter dir her das Wort sagen also: Dies ist der Weg, denselbigen gehet.

Jesaja 30:14

Dann gibt es Stufen auf dem Weg, wo äußerste Dunkelheit herrscht, und es gibt Bereiche tiefster Stille und Feierlichkeit, die einem Furcht und Schrecken einflößen, und auch dort kommt die erhabene Stimme Gottes zur Erlösung herbei und erweist sich als unfehlbarer Führer und Freund, der sagt:

Jedermann, ich will mit dir gehen und dein Führer sein, in der größten Not will ich dir zur Seite stehen.

Hugo von Hofmannsthal, Jedermann

Die Bedeutsamkeit des Tones als eines führenden Faktors wird überall anerkannt. Ein Wanderer, der ohne eine Unterkunft zu sehen, durch eine öde und einsame Ebene im Dunkel einer stillen Nacht dahingeht, horcht beunruhigt und sehnsüchtig darauf, ob er nicht von irgendwoher einen Ton vernimmt, vielleicht das Bellen eines Hundes in der Ferne, damit er weiß, in welcher Richtung er seine müden Schritte lenken soll; denn das Bellen kündet ihm die Nähe eines Obdachs und ermutigt ihn, weiterzugehen, bis er es erreicht hat. Ähnlich lauschen Landstreicher auf das Schlagen von Pferdehufen und das Klingen einer Glocke, die um den Hals eines Tieres hängen mag. Das ist die Kraft des Tones; unfehlbar und todsicher wie er ist, erlangt er noch größere Bedeutung auf der Inneren Reise der Seele.