Sein Wohlgefallen erlangen

I

Jeder Ort, wo man sich der Gott-Trunkenheit erfreuen kann, hat seinen eigenen Wert, sei es ein Tempel, eine Kirche, eine Moschee oder irgendein anderes Gotteshaus. Es leuchtet jedoch ein, dass der beste Ort, um Gott zu finden und sich Seiner Gegenwart zu erfreuen, der ist, wo Seine Widerspiegelung sichtbar wird. Die aus Stein erbauten Andachtsstätten wurden alle zum Gedenken Gottes errichtet, es ist aber nicht möglich, in irgendeiner von ihnen das Abbild des Herrn zu erblicken. Man kann Ihn nur in der menschlichen Form finden – in einer bestimmten menschlichen Gestalt, in der Gott Sich Selbst offenbart hat. Eine solche Persönlichkeit ist sozusagen Der auf Erden wandelnde Gott. Jene, die in religiösem Wissen geschult, an Rituale und Bräuche gefesselt sind, raten im Allgemeinen davon ab, Gott in der menschlichen Gestalt zu suchen. Ein ernsthaft Prüfender sollte aber genau überlegen, welchen Nutzen er von einem Lebenden Guru haben kann.

Wenn wir beispielsweise einen Tempel oder eine Moschee betrachten, stellen wir fest, dass Ersterer wie der menschliche Kopf kuppelförmig ist und Letztere die Form der Stirn hat. Beide sind dem menschlichen Körper nachgebildet, und man betet darin mit großer Ehrerbietung. Es wird ihnen die höchste Bedeutung beigemessen, während man den Wahren Tempel, die Wirkliche Moschee des menschlichen Körpers, nicht beachtet; dorthinein gehen wir nie. Die Wahrheit liegt vergessen in uns, und es bleibt nichts anderes übrig, als sich mit äußeren Dingen zu trösten. Ein Modell des menschlichen Körpers zu machen ist ganz leicht, aber wir legen fortwährend eine Hülle um die andere über das Wahre Licht Gottes in unserem Wesen; und es ist tatsächlich äußerst schwierig, damit aufzuhören.

Mein Meister pflegte das Beispiel einer getreuen Ehefrau anzuführen, die ungeachtet der guten oder schlechten Bemerkungen, die die Welt über ihren Charakter macht, ihre Aufmerksamkeit immer nur auf ihren Gatten gerichtet hält und weiß, dass sie wahr zu sich und zu ihm ist. So sollten wir, wenn wir zu Gott gehen, einzig dieses Ziel vor Augen haben und uns niemals darum kümmern, was von anderen gesagt wird. Geht euren Weg, die Aufmerksamkeit unaufhörlich bei dem Herrn, denn ihr seid Sein, und Er ist euer.

Das Ziel für alle Religionen war immer ein und dasselbe, aber was geschah?

Hafiz Sahib erklärt:

Wir hatten uns aufgemacht, dem Herrn zu begegnen, aber mittendrin wurde unsere Aufmerksamkeit gefangen genommen.

Religiöse und herkömmliche Bräuche haben unsere Aufmerksamkeit vom wirklichen Zweck der Reise abgelenkt, und solange das Mysterium des Lebens nicht gelöst ist, können wir unser ganzes Leben mit der Suche in äußeren Dingen dahinbringen, ohne dass die Wahrheit je enthüllt würde. Wer sind wir, und welche Beziehung haben wir zur physischen Gestalt? Auf welche Weise sind wir mit Gott verbunden? Bevor sich diese Fragen beantworten lassen, muss das Auge geöffnet werden, mit dessen Hilfe bei tatsächlichem Sehen die Wahrheit offenbart wird.

Ein Moslem-Maulvi-Sahib ermahnt uns:

Warum zerstreut ihr eure Aufmerksamkeit mit verstandesmäßigen Bestrebungen? Welchen Weg ihr auch geht, taucht darin ein, taub und stumm gegenüber allem anderen. Mit voller Konzentration geht auf euer Ziel zu; stürzt euch kopfüber hinein! Abwägen und Zweifeln hält nur euren Fortschritt auf.

Weiterhin sagt Er:

Ich bin in Ihm.

Das geschieht nur bei der großen Begegnung, wenn zwei Eins werden – wenn Er alleine da ist, Er, Dessen Ebenbild wir sind. Wird der Vorhang der Trennung beiseite gezogen, gibt es kein Auseinandergehen und Zusammenkommen, keine Sehnsucht mehr.

Christus sagte uns:

Ich und der Vater sind Eins.

Johannes 10:30

Guru Arjan tut kund:

Der Vater und der Sohn haben die gleiche Farbe.

Wenn die Seele diesen erwachten Zustand erlangt, hört das Wandern, das Suchen und die leidvolle Trennung auf. Ein Wahrer Guru ist nicht von Gott getrennt, darin liegt Seine Größe. Indem Er Sich Selbst verlor, wurde Er in der Tat das Ebenbild Gottes, und wer im Guru aufgeht, wird dem Guru gleich – ein Gurumukh oder das Sprachrohr des Gurus.

Paulus erwähnte diesen Zustand, wenn Er sprach:

Ich lebe aber: doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.

Galater 2:20

Unser Moslem-Prophet fährt fort:

Der Raum innen ist so erfüllt von meinem Geliebten, dass es keinen Platz für mich gibt; nur Er ist da. Ich bin in Dir; seht in meine Augen und nehmt die Einheit wahr. Wenn ihr sie nicht wahrnehmt, trage ich dann die Schuld?

Selbst der Gedanke Ich bin nicht da, kommt nicht auf. In den Augen einer erleuchteten Seele vibriert die Kraft, um euch wie mit einem Magneten ins Jenseits zu ziehen. Das war der ursprüngliche Grund, weshalb man Arti ausführt – ein Hindu-Ritual mit brennenden Kerzen.

Bei einem Satsang saß ich neben Hazur – Er hieß mich manchmal neben Ihm zu sitzen, so wie es ein Vater tun würde – , und ich sagte, dass es in der Vergangenheit eine Zeit gab, wo der Guru Seine große Zehe in Wasser wusch und es die Schüler trinken ließ, da eine große Aufladung darin war. Unter dem zehnten Guru der Sikhs erhielten sie Amrit – Nektar, der aus gesüßtem Wasser hergestellt wurde; und wenn sie ihn tranken, waren sie – wiederum durch die Aufladung – mit Leben erfüllt. Zur Zeit von Tulsi Sahib und Soami Ji Maharaj war es schließlich üblich, Arti zu praktizieren, indem man vor dem Guru in Augenhöhe mit Ihm saß; aber diese Phase ging auch vorüber. Zu Lebzeiten meines Meisters Hazur war es Sitte, die Füße des Gurus zu berühren. Auch das ist vorbei, und es bleibt nur, in die Augen des Meisters zu sehen und in Seine Strahlung vertieft zu sein, da die Augen die Fenster der Seele sind. Der Zweck all dieser Gesten war, dass die Schüler Vorteil von der Ausstrahlung des Gurus haben sollten. Doch wenn die Gurus gehen, besteht nur noch die leere Handlung.

Die höchsten Sinnesorgane sind die Augen. Nase, Ohren, Mund usw. sind auf einer niedrigeren Ebene. Wenn die beiden Augen am Punkt der Praxis über der Nase zusammenkommen, werden sie eins, und der Innere Pfad, durch den wir mit dem Jenseits bekannt werden, wird geöffnet. Wenn sich die vier Augen begegnen und Eins werden, gibt es kein Getrenntsein und keine Frage der Dualität. Der Schatz wird von Auge zu Auge gegeben. Von Auge zu Auge erfährt man eine Trunkenheit, und der physische Körper wird unbedeutend – wertlos. Selbst der Gedanke an ihn ist nicht mehr da. Kritik, Spott und unangenehme weltliche Angelegenheiten gleiten, ohne zu schaden, über einen hinweg. Dies ist das Wissen vom Einssein.

Hafiz Sahib hat gesagt, dass die Worte, die von den Heiligen geäußert werden, für jene gedacht sind, die sie empfangen wollen. Dies ist ihre letzte Verbindung mit der Welt; denn ihr Herz ist rein geworden, und sie haben das rechte Verstehen. Sie sind daher bereit, den Herrn zu erkennen. Die noch unreif sind, werden mit ihren äußeren Übungen fortfahren; denn ihre Zeit ist noch nicht da. Obwohl die Wahrheit in jedem Wesen ist, muss sie dennoch vom Guru durch die Augen neu belebt werden, weil die Kraftaufladung, die in diesem Vorgang liegt, nicht durch Bräuche und Rituale übermittelt werden kann. Diese Aufladung ist eine Trunkenheit, die von dem Menschen sein ganzes Leben lang nicht vergessen wird. Manche denken, dass die Nachfolge des Gurus durch juristische Dokumente zustande kommt. Doch wie ist das möglich oder auch nur durchführbar?