VIII / (ii)

Wissenschaft und Religion

Die Wissenschaftler glauben, dass Religion lediglich in einer Menge abergläubischer Auffassungen und Meinungen bestehe und dass einer ohne Religion genauso anspruchslos und voller Frieden und Glück sein könne wie einer mit Religion. Atheisten oder solche, die nicht an Gott glauben, erklären, dass Religion wie Opium auf das Volk wirke. Gläubige hingegen sind der Ansicht, dass die Wissenschaft durch die Erfindung tödlicher und diabolischer Werkzeuge, die der Verwüstung und Zerstörung dienen, in der Welt Teufelssamen der Disharmonie, Unzufriedenheit und Spaltung gesät hat. Die Wissenschaftler lassen gelten, dass der Mensch aus Körper und Verstand zusammengesetzt ist, und wenn man sich um den Verstand kümmerte, würde der Geist, wenn es überhaupt einen gibt, für sich selbst sorgen. Dem Geist und Gott gegenüber sind sie skeptisch.

Für die Meister-Seelen ist allein der Geist die wirkliche Wesenheit, aber er ist im Gefängnis von Körper und Gemüt verstrickt. Es ist ihre Aufgabe, den Geist von den verschiedenen Hüllen, die ihn umgeben, zu befreien und ihn mit dem Wort oder der Wirkenden Gotteskraft, dem Heiligen Geist, zu verbinden, von dem Sie eine persönliche Erfahrung haben. Diese Evolution des Geistes ist wahrlich die Erlösung, aber nur sehr wenige verstehen ihre eigentliche Bedeutung. Manche sind der Meinung, dass sie nur in einer Erstarrung bestehe, während andere die Ansicht vertreten, dass es auf Nihilismus oder Atheismus herauskäme, das heißt auf die Verneinung jeglicher Existenz und die Ablehnung aller moralischen und religiösen Glaubensanschauungen.

Doch jede dieser Vorstellungen ist weit von der Wahrheit entfernt. In Wirklichkeit ist das Gemüt das verbindende Glied zwischen dem Körper und dem, was sich auf ihn bezieht, und diese Verkettung bedeutet Bindung, wohingegen das Zerbrechen dieser Bindung Erlösung genannt wird. Der erste Schritt in dieser Richtung ist Gurubhakti oder die Hingabe an den Lebenden Meister, und der nächste ist die Praxis von Naam oder dem Wort, das schließlich zu Sach Khand oder Mukam-i-Haq (die Stätte der Wahrheit) führt.

O Hafiz! Das Paradies oder der Himmel ist unser Geburtsrecht und unser Erbgut.

Würde man tiefer und ernsthafter über die Vorteile und die Grenzen von Wissenschaft und Religion nachdenken, so könnte man eine enge Verbindung zwischen beiden feststellen. Die Umgebung übt einen zweifachen Einfluss auf alles Lebende aus, nämlich einen äußeren und einen inneren, und beide sind universal in ihrer Art. Der Mensch ist mit Verstand Vernunft und Unterscheidungskraft ausgestattet, welche den anderen Geschöpfen fehlen, und durch die er instand gesetzt wird, seine Umgebung zu beherrschen. So lange zwischen den inneren und den äußeren Dingen des Menschen Harmonie besteht, ist er glücklich; und wenn sie sich so gestalten, wie er es wünscht, ist er glücklich und zufrieden. Die Erfahrung jedoch zeigt, dass der harmonische Zustand zwischen dem Menschen, der immer voller Wünsche ist, und seiner Umgebung nicht verlässlich ist, und nicht lange dauert. Beide wechseln beständig.

Es war immer das Bestreben des Menschen, einen Weg zu finden, der volle und unwandelbare Harmonie zwischen ihm und seiner Umwelt sichert. Der eine Weg ist, die äußeren Bedingungen insoweit zu beherrschen, dass die Bedürfnisse des Menschen befriedigt werden, welcher Art sie auch immer sein mögen. Der andere ist, sein inneres Drängen und die angeborenen Neigungen dahingehend zu regulieren, dass man der sich immer ändernden äußeren Umwelt gegenüber völligen Gleichmut entwickelt, so dass man auf das Einströmen der wechselnden Zustände, in denen sich alle Dingen befinden, gar nicht reagiert. Der zuerst genannte Weg ist seiner Natur nach wissenschaftlich, während der letztere rein religiös ist.

Der Bereich der Wissenschaft erstreckt sich von den Elektronen bis zu den Sternen. Er umfasst alle Objekte der Welt, welche die menschlichen Gefühle und Empfindungen beeinflussen und tatsächlich auch alles, was die Sinne erfassen können. Dem entgegengesetzt ist die innere Welt ganz anders und einzigartig in ihrem Charakter. Unsere motorischen und sensorischen Organe, die in der materiellen Welt so vortrefflich arbeiten, können nicht einfach umgestellt werden und die innere geistige Welt aufnehmen. Sie ist voll ungeahnter Möglichkeiten, und unermessliche Schätze der Spiritualität liegen in unserer Reichweite; wenn wir nur wüssten, wie in das eigene Selbst hineinzugelangen.

Wiederum kommt es bei den materiellen Dingen auf den Wert und den Vorteil der Quantität an. So machen zum Beispiel zwei Hälften eines Brotes ein ganzes aus, aber zwei Toren machen keinen Weisen. Weiter haben wir Geräte und Instrumente, die uns bei unserer materiellen Forschung helfen; und die Schlussfolgerungen, zu denen wir im Verlaufe unseres Experimentierens kamen, sind in der Praxis wirklich nachweisbar. Dies sind einige der Gründe, die zur Bedeutung der wissenschaftlichen Wahrheiten beitragen. Täglich werden wissenschaftliche Experimente durchgeführt und bis ins Endlose fortgesetzt. Was heute wahr ist, braucht es morgen nicht mehr zu sein. Aber das ist nicht der Fall bei der Religion. Wahrheit ist immer Wahrheit und wird es immer bleiben. Sie garantiert jedoch dauerndes Glück und immerwährende Wonne, wenn man die angeborenen Neigungen und das natürliche Drängen des Gemüts in die rechte Bahn lenkt und die wandelbaren äußeren Umstände nicht beachtet.

Der Pfad der Religion ist mit vielen Hindernissen übersät. Alle Menschen, einschließlich der Heiligen, sind sterblich, und nachdem sie die physische Ebene verlassen haben, bringen ihre Anhänger in blindem Enthusiasmus Dinge in ihre Lehren hinein, die sie nie geäußert haben oder zumindest niemals so meinten. Die sogenannten philosophischen Abhandlungen sind so voll von Entstellungen und offensichtlichen Widersprüchen, dass man den Eindruck eines völligen Durcheinanders hat.

Um die spirituellen Höhen einer Meister-Seele zu erreichen, muss man deren Anweisungen gemäß in das Laboratorium seines eigenen Körpers eintreten und dort mit den Experimenten beginnen. Die erzielten Ergebnisse können infolge der besonderen Veranlagung und des jeweiligen Hintergrunds von Mensch zu Mensch verschieden sein. Die Schlussfolgerungen, zu denen man so gekommen ist, und die Zeit, die in jedem Fall darauf verwendet wurde, sind darum rein persönlicher Natur und nicht universaler Art wie in der Wissenschaft. Aus diesem Grunde können wir unmöglich eine Erfahrung des spirituellen Lebens durch die verschiedenen Arten der Verehrung in den Tempeln und Moscheen, Kirchen und Synagogen oder durch die heiligen Schriften der verschiedenen Religionen haben. Ein Lebender Meister, Der den Körper und das Gemüt erfolgreich überschritten und tatsächlich Erfahrung der unverhüllten Wirklichkeit jenseits aller Begrenzungen und Schranken hat, kann eine zuverlässige Aussage über die große Wahrheit machen. Durch persönliche Führung und Unterweisung kann Er uns helfen, den Geist von den physischen und mentalen Fesseln zurückzuziehen und uns im Innern eine tatsächliche Erfahrung von dem geben, was Er selbst bereits erfahren hat.

Was ein Mensch getan hat, kann auch ein anderer tun, natürlich mit der rechten Führung und Hilfe. Der persönliche Kontakt mit dem Meister, Seine Gedanken-Übertragung, Seine geladenen Worte und die magnetisierte Persönlichkeit – all das hilft eine Menge bei der Umwandlung der einzelnen Seelen. Wer auch immer kommt und in der persönlichen Aura eines Meisters bleibt, wird elektrisch geladen und auf die ewige Energie abgestimmt, von der Er durchdrungen ist, die Er ausströmt, überträgt und dem Aspiranten eingibt. Diesen Vorteil kann man genauso gut aus einer Entfernung von Tausenden von Kilometern haben, wenn man die entsprechende Empfänglichkeit für einen solchen Meister entwickelt.

Der Lebensimpuls kommt vom Leben, so wie Licht von Licht kommt; das ist in der physischen Welt genauso wie in der spirituellen. Auch die Technik der Religion ist wie die Technik der Wissenschaft gewissen fundamentalen Gesetzen unterworfen, nur mit dem Unterschied, dass wir uns der ersteren noch nicht bewusst sind, weil wir ihr nur wenig Beachtung gezollt haben und sie demzufolge nicht zu unserem Vorteil nutzen können. Ein reines Leben und hohe ethische Gedanken, Worte und Taten ist Vorbedingung für einen Aspiranten auf dem spirituellen Pfad. Das Gemüt muss zur Ruhe gebracht werden, nachdem es von den verschiedenen äußeren Störungen, innerem Locken und Drängen, dem Zauber der Umwelt oder den trüben Gedanken und finsteren Blicken befreit ist. Genau wie bei einem wissenschaftlichen Experiment muss man auch hier ein Laboratorium betreten und dafür sorgen, dass alle Instrumente ganz sauber und rein und gründlich sterilisiert sind. Und wieder, bevor man mit der Operation beginnt, werden alle Türen und Fenster geschlossen, damit man sich der Arbeit ungestört durch äußere Einflüsse und mit ungeteilter Aufmerksamkeit zuwenden kann.

Es ist eine allgemeine Erfahrung, dass die Menschen stolz darauf sind, die uralten Bräuche und Sitten gewissenhaft zu befolgen und sich blindlings an alte Überlieferungen halten, ohne zu wissen, dass ungültige Münzen, wie kostbar, von historischer Bedeutung und archäologischem Interesse sie auch sein mögen, im glühenden Ofen geschmolzen und neu geprägt werden müssen, bevor sie wieder in Umlauf gesetzt werden können. Im 20. Jahrhundert ist es von höchster Bedeutung, dass der überflüssige Zuwachs, der sich nach und nach um die ewigen spirituellen Wahrheiten angesammelt hat, entfernt wird. Wir sollten sie von dem überkrusteten Staub der Zeiten, der sich auf sie gelegt hat, befreien und sie dann der Öffentlichkeit erneut in einer gültigen und gangbaren Form als zeitgemässe Zahlungsmittel übergeben.

Die jetzigen Vorurteile, gegenseitigen Eifersüchteleien und die engstirnige Bigotterie, die wir in den verschiedenen religiösen Körperschaften finden, waren von ihren Gründern niemals beabsichtigt. Solche Übel sind alles spätere Auswüchse, die infolge der äußeren Einflüsse eifriger Verfechter, ungestümer Kommentatoren und Polemiker dazugekommen sind. Diese winden und drehen die einfachen fundamentalen Wahrheiten, um sie ihren eigenen Zielen anzupassen und auf billige Weise an die Führung zu gelangen, die ihnen Name, Ruhm, Reichtum und Macht einbringt. Der uralte Wein der Spiritualität muss deshalb aus den alten, vergessenen Kellern herausgeholt und den Zechbrüdern in neuen Flaschen angeboten werden, die ihrer Vorstellung zusagen, damit sie sie ohne Marken und Etikette bereitwillig nehmen, um ihren Durst zu stillen.