IX

Das Ideal der Universalen Religion

*Die dringende Notwendigkeit dieser Zeit ist es, eine Universale Religion für die ganze Menschheit zu errichten, welche ein Kompendium all dessen sein sollte, was in jeder Religion gut ist. Aber ist das möglich? Infolge der Unterschiede in den Temperamenten und den Denkweisen ist es nahezu unmöglich, Regeln der Verehrung niederzulegen, die für alle akzeptabel sind, und ihre verschiedenen Gedankenströme in einen Kanal zu lenken. Bei all dieser Unterschiedlichkeit gibt es dennoch eine Sache, die der ganzen Menschheit gemeinsam ist. Es ist das Göttliche Bindeglied, durch welches die ganze Schöpfung ins Dasein kam und durch das sie erhalten wird. Alle Religionen, trotz ersichtlicher Unterschiede in den äußeren Formen und Ritualen, sind vom Grunde her in Wesentlichkeiten eingebettet, welche ohne Unterschied und genau gleich sind. Der Göttliche Boden, auf dem jede von ihnen ruht, ist derselbe, und die enorme Masse des Oberbaus wurde in jedem Fall auf der Grundlage der Gottheit selbst errichtet.

Das Problem, das uns gegenübersteht, ist, einen Weg zu finden, durch den es möglich sein könnte, diesen Göttlichen Boden – die Grundlage der Gottheit – zu erreichen. Die essentiellen Wurzeln aller Religionen sind dem Blick nun verloren gegangen und wurden völlig vergessen unter der Tarnung alten Wortschwalls, dem verkrusteten Staub der Zeiten und den dogmatischen Formelsammlungen der Priesterschaft. Alles, was wir jetzt brauchen, ist, der heutigen wissenschaftlichen modernen Welt die Wahrheit noch einmal in einer wissenschaftlichen Fassung darzulegen. (* Die Übersetzung dieses Abschnitts ist an die englischsprachige Erste Edition von 1959 angeglichen; Anm. d. Redaktion 2012.) Die Religion ist, statt eine Quelle des Trostes für die Seelen zu sein, zu einem Mittel der Trennung, des Hasses, des Übelwollens und der Tyrannei geworden. Im heiligen Namen der Religion wird die Menschheit mit Feuer und Schwert unterdrückt, unschuldiges Blut wird vergossen, und das schöne Antlitz der Erde wird durch Verheerung und Zerstörung entweiht; und dies nur darum, weil den Unwesentlichkeiten der äußeren Formen zuviel Bedeutung beigemessen wird. Die Folge davon ist, dass die so genannten Religionen für die Menschen der ganzen Welt ein Gräuel geworden sind, weil es ihnen nicht gelang, der Menschheit in ihren allgemeinen Nöten zu dienen. Eine Religion sollte die Menschen und Nationen miteinander verbinden und die Welt durch gemeinsame Bande allumfassender Liebe, Kameradschaft und Bruderschaft verknüpfen.

Mögen auch die Religionen nun auf ethische Gesetze sozialer Lebensführung und sozialer Ordnungen, auf die sie bereits herabgesunken sind, beschränkt sein. Möge es den Menschen freigestellt sein, in den abgestempelten Kategorien, in die sie hineingeboren sind und zu denen sie gehören, zu verbleiben; es ist aber äußerst wichtig, die wesentlichen Wurzeln aller Religionen herauszufinden und zu verstehen. Durch tiefes Eindringen im Innern sollte die Seele jedes Einzelnen dahin kommen, auf dem Göttlichen Grund zu ruhen und das gemeinsame Bindeglied, das die ganze Schöpfung durchdringt, die Quelle und den Ursprung allen Lebens, zu ergreifen. Wenn dies alles nicht als eine Wissenschaft in Theorie und Praxis übermittelt wird, sind die Menschen nicht willens, darauf zu hören und die Grundbegriffe aller Religionen anzunehmen. Sie müssen sich über die ritualistischen Formen und Bräuche erheben, an die sie seit undenklichen Zeiten gefesselt sind und an die sie sich so beharrlich klammern.

Religion bedeutet im wirklichen Sinne des Wortes Wiedervereinigung mit Gott. Die Heiligen sind immer mit Gott vereint. Was auch immer für geistige Erfahrungen sie in den spirituellen Bereichen hatten, ist in den heiligen Schriften zum Nutzen der Menschheit niedergeschrieben.

Man hat nicht das Recht, die Schriften phantastisch oder fehlerhaft zu nennen, denn fehlerhaft ist der, welcher nicht wirklich über das Geschriebene nachdenkt und versucht, ihren wahren Sinn zu erfassen.

Kabir

Wer auch immer eine Erfahrung von Gott erlangt, liebt die ganze Menschheit. Er spürt in sich eine Verwirklichung der Vaterschaft Gottes und der Bruderschaft der Menschen. Darum kann es als sicher gelten, dass jene, die Hass predigen und Saaten der Feindseligkeit in Gottes Schöpfung säen, noch keine Erfahrung des Schöpfers haben.

Die persönliche Erfahrung mit Gott, welche eine Seele hat, ist in Wirklichkeit wahre Religion. Wenn wir nicht die spirituellen Erfahrungen, wie sie in den heiligen Schriften niedergelegt sind, durch die Gnade eines Lebenden Meisters selbst machen, bleiben wir weiterhin Atheisten oder Agnostiker, ohne zu wissen, was Religion ist.

Gott schuf den Menschen nach Seinem Bilde, und darum sollte der Mensch so vollkommen werden, wie es der Vater ist. Dies aber wird nur möglich, wenn er lernt, Seinen Willen zu verstehen und in Übereinstimmung mit ihm zu wirken. Das ist die wahre Religion und wahrer Glaube, während alles andere leerer Schein und Blendwerk ist.

Wenn wir die heiligen Schriften aller Religionen analysierten, würden wir feststellen, dass die darin enthaltenen spirituellen Wahrheiten treffliche Berichte über die wirklichen spirituellen Erfahrungen ihrer Gründer sind. Diese Meister-Seelen haben immer den spirituellen Aspekt des menschlichen Lebens betont und nachdrücklich erklärt, dass es im menschlichen Körper eine gesonderte Wesenheit gibt, genannt Geist, welche die unwandelbare Beständigkeit ist. Sie behaupten, dass diese Wesenheit genau wie andere Fähigkeiten – die physischen, mentalen und intellektuellen – im ewig sich wandelnden physischen Kleid der materiellen Welt entwickelt werden kann.

Die Freude an weltlichen Dingen ist kein idealer Zustand. Das Ziel des Menschen sollte die Selbsterkenntnis sein. Alle heiligen Schriften berichten uns von dem Weg, auf dem der Geist eine Erfahrung des unermesslichen Bewusstseins und des Überbewusstseins erlangen und dadurch ein wirklich spirituelles Leben führen kann, das jedoch nicht in blindem Glauben, im gläubigen Vollziehen von Riten und Ritualen und gewissenhafter Beachtung der sozialen und ethischen Verhaltensregeln besteht. Die Wahrheit zu erkennen ist das ein und alles jeder Religion. Die Grundlehren aller beziehen sich auf die Verwirklichung von Shabd, Naam, Kalma oder dem Wort, was alles verschiedene Bezeichnungen für das gleiche sind, nämlich für die Gottheit, die Wirkende Gotteskraft oder den Heiligen Geist. Der spirituelle Fortschritt ist möglich, kann aber nur erreicht werden, wenn sich der Geist mit diesem Naam oder Shabd verbindet; daher wird diese Art der Vereinigung mit dem Tonstrom als Surat Shabd Yoga bezeichnet.

*Wir müssen alle Religionen mit Liebe und Ergebenheit studieren, den gemeinsamen Göttlichen Boden, der jeder zugrunde liegt, als eine durchführbare Formel übernehmen und akzeptieren. Die verschiedenen religiösen Bücher, wie zum Beispiel die Veden, die Heilige Bibel, der Heilige Koran und der Sri Adi Granth Sahib und all die anderen Schriften, sind so viele Seiten des endlosen Buches von Gott, zu welchem von Zeit zu Zeit noch weitere hinzugefügt werden können. In diesem materialistischen Zeitalter ist es notwendig, dass die gesamten Spirituellen Wahrheiten an einer Stelle gesammelt und der Menschheit als ein schönes Bouquet überreicht werden.

Die erwachten Menschen überall auf der Welt erkennen die Wahrheit dessen und bilden Weltkonferenzen der Religionen, um der Menschheit die grundlegenden Ideen, welche allen Religionen gemeinsam sind, vorzulegen, damit die Spiritualität auf den Stand einer regulären Wissenschaft gestellt werden möge, der sich alle Wahrheitssucher zuwenden können, ungeachtet ihrer Gesellschaftsklasse oder des Glaubens und ohne die sozialen Ordnungen, denen sie angehören, zu stören.

Der heutige Versuch, Weltreligionskonferenzen abzuhalten, eine Weltgemeinschaft der Religionen zu gründen, Institutionen zum vergleichenden Studium aller Religionen zu schaffen und Untersuchungen über die hauptsächlichen Prinzipien der Wahrheit, Liebe und Gewaltlosigkeit zu leiten, sind Schritte in die richtige Richtung und weisen auf die Zeit hin, in der die ganze Welt in den seidenen Banden einer Universalen Religion der Liebe und Menschlichkeit verbunden sein wird.

* (Die Übersetzung dieses Abschnitts ist an die
englischsprachige Erste Edition von 1959 angeglichen;
Anm. d. Redaktion 2012.)