XIV

Apara Vidya
(oder die Wissenschaft der Welt)

Ihr Wert

Die Schriften sind in der Tat wunderbar und wertvolle Aufzeichnungen über die persönlichen Erlebnisse der Großen Seelen auf ihrer Suche nach der Wahrheit, und so sind sie aller Achtung und Verehrung würdig. Das Studium der Schriften hat seinen eigenen Wert. Diese Bücher erwecken in uns bis zu einem gewissen Ausmaß den Wunsch, Gott zu erkennen. Wenn wir darin lesen, werden wir ebenfalls angeregt, in der Wissenschaft des Lebens zu experimentieren und einen Lebenden Meister zu suchen, Der kompetent ist, uns in die Voraussetzungen für dieses Wissen einzuweihen; denn nur ein solcher kann uns helfen und uns auf dem spirituellen Pfad von Ebene zu Ebene führen. Darüber hinaus können uns die Schriften von keiner Hilfe sein.

Wirkliche Hilfe kommt allein von einem Lebenden Meister, Der uns das uralte Experiment wiederholen lässt. Um uns zufriedenzustellen, verweist Er uns auf die aufgezeichneten Resultate und Schlussfolgerungen, damit wir eine eigene Nachprüfung anstellen können. Wiederum ist es der Lebende Meister, Der die alten Schriften genau auslegen und uns ihren rechten Sinn vermitteln kann. Da Er mit der Kraftquelle oder der Wirklichkeit verbunden ist, kommt das, was Er sagt, von Gott selbst, auch wenn die Worte aus einer menschlichen Kehle zu stammen scheinen.

Seine Worte sind die Worte Allahs (Gott), wenngleich sie von Abdullah (Seinem Knecht) zu kommen scheinen.

Koran

Und Guru Nanak sagt:

O Lalo, ich öffne den Mund nur, um die Worte zu sagen, die von meinem Geliebten (Gott) zu mir kommen.

Diese Worte göttlicher Weisheit, die direkt von einem Gottmenschen kommen, sind kostbarer als die kostbarsten Edelsteine, von denen in den heiligen Büchern die Rede ist. Sie alle haben keinen anderen Wert, als dass sie in uns den Wunsch erwecken, Gott zu erkennen. Sie können aber nicht tatsächlich helfen, uns nach Innen zu kehren, um dort anzuklopfen, uns zurückzuziehen und uns mit dem Wort, Naam oder Kalma zu verbinden.

Unglücklicherweise werden die Menschen der Welt in Bücher verstrickt, hängen gänzlich und allein an ihnen als ihre Hauptstütze im Leben, ohne den Versuch zu machen, das, was in den Büchern steht, zu tun, nämlich:

Stimme dich auf Gott ab.

So ist man verwickelt in die Welt und an die Schriften gebunden und findet nicht die Seligkeit. Die Srutis und Puranas sprechen alle vom Weg. Doch statt frei zu werden, versinkt der Mensch immer tiefer im Morast.

Ramayana von Tulsi Das

Ein Lebender Meister, andererseits, zeigt uns einen Ausgang und stellt uns auf die große Hauptverkehrsstraße, die zum Unendlichen führt. Er wird zum Führer der überdrüssigen Seele, die hin- und hergerissen ist durch den Kampf des Lebens in der Welt, eine Aufgabe, welche kein Buch verrichten kann.

Der Mensch ist das älteste aller empfindenden Geschöpfe auf Erden. Alle Religionen und alle heiligen Schriften sind erst nach seinem Kommen entstanden. Alle Religionen wurden zum Wohl des Menschen gegründet, es war nicht der Mensch für irgendeine Religion bestimmt. Gott schuf den Menschen, und der Mensch brachte die Religionen hervor. Der Mensch ist der Verfasser aller Schriften; aber das große Mysterium des Lebens, das die letzteren beschreiben, liegt immer in der menschlichen Brust. Niemand kann es kennen und lösen, ehe nicht eine Meister-Seele den Eingang zeigt und der Seele hilft, sich zurück zu ziehen und alle Begrenzungen zu überschreiten, physisch, astral und kausal, bevor es ermöglicht wird, einen flüchtigen Blick im Inneren zu haben und der inneren Göttlichen Musik zu lauschen.

Der Mensch zitiert ständig die Schriften und erklärt großen Versammlungen die Schrifttexte, doch das Bedauerliche dabei ist, dass er selbst der Wahrheit, die er anderen predigt und die er studiert, immer fern bleibt, aber viel Lärm und Aufhebens darum macht.

Er studierte die heiligen Schriften der Diskussionen wegen und ohne die Wahrheit zu kennen; doch die Wahrheit kann nicht erkannt werden, außer durch eine Meister-Seele, Die den wahren Weg zum wahren Einen zeigt.

Guru Arjan, Maru M5

Es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Menschen und den Schriften. Der Erstere ist ein empfindendes Wesen, mit Bewusstsein und Vernunft begabt, und weiß es, während Letztere nichts empfinden und so nicht wissen, dass sie stumpf und leblos sind, nicht in der Lage, rechtes Wissen von sich zu geben, ohne einen wirklichen Interpreten. Wie können die heiligen Schriften mit einem lebenden Wesen sprechen, disputieren und versuchen, es zu überzeugen? Jeder glaubt, dass er mit seinem Buchwissen und seiner Bildung etwas von der Wirklichkeit weiß, und er erkennt nicht, dass der Unendliche nicht durch endliche Mittel begriffen werden kann. Nur der Geist kann Seiner Kraft und Macht innewerden, wenn er unter der Leitung und Anweisung eines Lebenden Meisters auf die rechte Weise abgestimmt ist und sich angepasst hat.

Solange wir keine innere Erfahrung von der Seele haben, befinden wir uns in völliger Finsternis. Buchgelehrsamkeit bringt nur Kopfschmerzen, weil sie den Verstand durch die Sinne in die äußere Welt zieht und uns vortäuscht, dass wir mit ihnen – durch die ständige Verbindung mit der Welt und indem wir immer in Begriffen des Körpers und der körperlichen Beziehungen um uns her denken – identisch sind. Zum andern befriedigt das Wissen um das Selbst das angeborene Verlangen und den Hunger der Seele nach Frieden und Glückseligkeit. Alles was wir zu lernen nötig haben, ist das Buch des Menschen; denn das höchste Studium des Menschen ist der Mensch.

Wenn jemand einmal fähig ist, die Seiten der Seele zu öffnen und die großen und ungeheuren Möglichkeiten, die darin verborgen sind, sieht, dann dämmert in ihm eine Art neues Erwachen und ein neues Licht auf, das schattenlos und unerschaffen ist. Dies wird Regeneration, Wiedergeburt oder Auferstehung genannt. Es setzt seinen sonst endlosen Leiden, Drangsalen, Wünschen und Nöten ein Ende, und er wird in seiner angeborenen Gottheit und Göttlichkeit begründet. Die Seele, die nun frei ist von allen weltlichen Bindungen, kommt zu sich, erkennt ihre wahre Göttliche Natur und sucht, ihre Quelle und ihren Ursprung, das große Meer allen Bewusstseins, das die drei wesentlichen Elemente – Leben, Licht und Liebe – in sich schließt, zu finden und zu verstehen. Wenn sie diese höchste Wahrheit erreicht, erlangt die Seele auf ewig vollkommene Ruhe und Glückseligkeit. Doch der ganze Vorgang spiritueller Evolution, die in das Universale Bewusstsein erblüht, ist nur durch die Gnade eines Gottmenschen möglich und nicht auf andere Weise. Es ist das fundamentale Gesetz seit den Tagen der Schöpfung und es lässt keine Änderung zu.

Wie es nur einen Gott und nur eine Wahrheit gibt, so gibt es auch nur einen Pfad, der zu Ihm führt – den Pfad der Meister. Dieser ist nichts anderes als der Surat Shabd Yoga oder der Yoga des Tonstromes.

Ein Moslem-Heiliger erklärt:

Übergib alle Bücher den Flammen, und verwandle dein Gemüt durch die stete Erinnerung an den Herrn in einen wahren Garten Allahs (Gottes).

Die Veden und Upanishaden sagen, dass Atma Sidhi oder Selbstverwirklichung weder durch das Studium der Schriften noch durch das Hören auf sie erlangt werden kann, da das Selbst weit über dem Bereich des Gemüts und des Verstandes liegt. Sie kann erreicht werden durch Intuition, eine integrale Erfahrung der Seele, durch die Gnade einer Meister-Seele..

Im 39. Vers des Sukat 164. des Mandal aus dem Rig Veda und im 8. Vers, Kapitel IV der Swetarsweta Upanishade ist niedergelegt, dass ein Mensch, der den ursprünglichen grundlosen Urgrund, selbstexistent und immanent, welcher die Seele der Veden ist und in dem alle Götter und Göttinnen tief verwurzelt sind, nicht kennt, mit den Veden nichts zu tun hat. Nur jene haben wahrlich Frieden, die in Ihm verankert sind.

Selbst wenn ein Mensch in den vier Veden, den achtzehn Puranas, den neun Viyakaranas, den sechs Shastras (sechs Schulen indischer Philosophie) und in allen anderen heiligen Büchern der Welt gut bewandert ist, so ist er doch in dem Wirrwarr und Durcheinander der Schriften verloren und bleibt Gott fern wie je zuvor. Solange die menschliche Seele nicht mit Shabd oder dem Wort (dem Wirkenden Gott) in Verbindung kommt, streift sie wie ein Chandool (Papagei) in der Welt umher, welcher der Eingebung des Augenblicks folgt und das nachzusagen beginnt, was er hört.

Alle philosophischen Disputationen sind ein Ergebnis des abgestumpften und eintönigen Verstandes und eine Quelle des Kopfschmerzes. Es wäre bestimmt bei weitem besser, wenn man alles Wissen und alle Gelehrsamkeit aufgeben würde, um den einzigen ruhenden Pol – die Wirklichkeit –, den Spender allen Glücks und aller Wonne, zu ergreifen.

Bulleh Shah, Guru Nanak und viele andere sagen dasselbe.

Warum quälst du dich mit so vielen Büchern ab. Sie sind nur eine Quelle des Kopfschmerzes. Erlerne das Geheimnis des Mittelpunkts, und verlasse den Teufelskreis endloser und eitler Rede.

Bulleh Shah

Man mag Wagenladungen von Büchern lesen und eine schwere Last in seinem Kopf tragen, doch alle Studien schmieden nur starke Fesseln und halten uns in ihnen fest. Man mag endlos lesen, jahraus, jahrein und einen Monat nach dem anderen, ja, jeden Augenblick seines Lebens; aber nur eines zählt, o Nanak, alles übrige macht uns nur eitel.

Guru Nanak, Asa War M1

Das Studium der Schriften, einschließlich der Veden, weit davon entfernt, das Gemüt von seinen Fesseln zu befreien, macht einen nur noch mehr egozentrisch.

Guru Arjan, Sorath M5

Hafiz, ein bekannter persischer Dichter, geht sogar so weit, dass er sagt, solange der Mensch nicht das intellektuelle Gezänk lässt, er der Wirklichkeit völlig unkundig bleibt. Der Mensch hat eines zu beachten – dass er sich selbst überschreiten muss, wenn er allen Begrenzungen und Unzulänglichkeiten entgehen will.

Wenn man irgendein Problem zu lösen hat, muss man sich mit Herz und Seele der Lösung zuwenden. Die Upanishaden erklären klar und deutlich, dass Atma Vidya oder Selbsterkenntnis nur dann dämmert, wenn die Sinne beruhigt, das Gemüt gestillt und der Verstand im Gleichgewicht gehalten werden. Wissen und Gelehrsamkeit können für den spirituellen Menschen von zusätzlichem Wert sein, aber für den Weltklugen sind sie bestimmt eine Dornenkrone.

Wissen kann einen spirituellen Adepten zieren, doch es bedeutet Kopfschmerz für den fleischlich Gesinnten.

Maulana Rumi

In der Brihadaranyaka Upanishade heißt es, dass ein ungebildeter Mensch in tiefer Unwissenheit steckt und ein Gebildeter in noch größerer Finsternis. Warum? Weil ein Mensch mit großem Wissen schwerlich die Glorie und Größe der Heiligen und ihrer heiligen Lehren zu erkennen vermag.

Die Weisen und Heiligen legen deshalb Wert auf ein spirituelles Leben, denn Buchgelehrsamkeit ist für sie nicht von wirklichem Wert. Die Worte der Weisheit, die wir vom Hörensagen kennen, und das Wissen, welches wir aus Büchern haben, sind ohne Leben und können somit auf andere keinen Lebensimpuls übertragen. Es ist genauso, als ob man von Süßigkeiten spräche, aber nichts davon kostet. Wenn einer zum Beispiel das Wort Pudding hundert Jahre wiederholt und sogar über die verschiedenen Bestandteile, die für einen Pudding vonnöten sind, meditiert, so kann er doch den Pudding nicht schmecken und auch nicht davon satt werden, es sei denn, er isst ihn wirklich.

Bhai Gurdas sagt in diesem Zusammenhang:

Durch Wiederholen des Wortes Zucker schmeckt man nicht die Süße des Zuckers; durch Wiederholen des Wortes Feuer ist man von der Kälte nicht befreit; durch Wiederholen des Wortes Arzt ist man nicht von der Krankheit geheilt; durch Wiederholen des Wortes Leiden entgeht man ihm nie; durch Wiederholen des Wortes Sandel kann man sich nicht seines Dufts erfreuen; durch Wiederholen des Wortes Mond sieht man nicht sein müdes Licht; durch Wiederholen des Wortes Erkenntnis kommt man nicht aus der Unwissenheit heraus; nur die wirkliche Übung bringt das himmlische Licht.

Kabir Sawai 452