Weltfriede im Atomzeitalter

I

Herr Präsident, Delegierte, Vorsitzende, Freunde,

es ist ein besonderes Ereignis, mit den bedeutenden Delegierten und Abgeordneten der verschiedenen Länder der Welt zusammenzutreffen, die gekommen sind, um Pläne zu besprechen und die Universale Bruderschaft im Geist des Friedens und liebevollen Wohlwollens für die ganze Welt praktisch zu demonstrieren. Ich liebe Gott und die ganze Menschheit. Ich bin mir völlig bewusst, dass hier sehr fähige Männer und Frauen anwesend sind, doch ich erlaube mir, Ihnen offen das zu sagen, was mir zu dem Thema in den Sinn kommt, das als Hauptziel vor uns liegt, nämlich: Frieden für die Welt.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Er muss vom Brot des Lebens leben. Er ist ein bewusstes Wesen und muss sich selbst erkennen, um im Gottbewusstsein leben zu können. Der Mensch ist eine bewusste Wesenheit, die sich selbst durch das Gemüt1 und den physischen Körper zum Ausdruck bringt. Wenn er von der Sklaverei durch das Gemüt und die Materie nicht frei wird, kann er keine Selbst- und Gotterkenntnis erlangen. Wenn sein Gemüt dem physischen Körper und dessen Bedürfnissen zugewandt ist, wird der Mensch irdisch gesinnt. Das unvermeidliche Ergebnis sind Missgunst und Streit. Wird er aber der Seele zugewandt, dann wird er spirituell; das Ergebnis wird Frieden und Liebe sein.

In der Präambel zur UNESCO-Verfassung heißt es:

Da der Krieg im Gemüt der Menschen begann, müssen auch die Schutzmaßnahmen für den Frieden im Gemüt der Menschen geschaffen werden.

Alle Meister, Die in der Vergangenheit kamen, lenkten die Aufmerksamkeit des Menschen auf die Reinigung des Herzens. Wenn wir einen Wandel im Äußeren wollen, sollten wir zuerst unsere Herzen wandeln, denn der Mensch spricht aus der Überfülle seines Herzens. Was nützt es einem Menschen, wenn er sich äußerlich rein hält, aber Falschheit in seinem Herzen ist? Reinheit in Gedanken, Worten und Taten ist notwendig. Die Welt erwacht zu dieser Wahrheit. Das zeigt sich an der Tatsache, dass religiöse Konferenzen und Organisationen wie diese hier mit dem Ziel entstehen, die Menschheit zu erheben. Aber dennoch herrschen immer noch Gewalt und Hass in der Welt vor, und die Lehre von der Ungleichheit der Menschen und Rassen wird gepredigt und praktiziert. Manche wollen die anderen beherrschen, sie ausnutzen und von ihnen fordern, so viel nur möglich ist und geben von ihrer Seite nur wenig oder nichts. Durch all das wurden Gewohnheiten gebildet, die ein Bestandteil unserer Natur geworden sind. Wie können wir unser Gemüt wandeln und es einem Höheren Ziel zuwenden? Das Gemüt ist wie das Feuer ein guter Diener, aber ein schlechter Herr.

Guru Nanak sagte:

Sieg über das Gemüt ist Sieg über die Welt.

Lasst uns überlegen, wie wir unser Gemüt besiegen und unser Herz wandeln können. Der Mensch ist zusammengesetzt aus Körper, Gemüt, Intellekt und Seele. Wir müssen uns in jeder Richtung entwickeln. Physisch, sozial und politisch sind wir genug entwickelt. Wir haben wunderbare Erfindungen wie das Telefon, die Telegraphie, Rundfunk, Fernsehen, Flugzeuge, Raketen, Atombomben usw. gemacht. Beide aber, der physische Körper und der Intellekt, sind abhängig von der Seele im Inneren, von der wir wenig oder gar nichts wissen.

Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?

Da wir uns selbst nicht erkannt haben, richten sich alle Fortschritte, die wir auf der physischen und intellektuellen Ebene gemacht haben, gegen uns selbst. Der Präsident einer Konferenz von Wissenschaftlern, die erst vor kurzem abgehalten wurde, sagte bei seiner Rede, dass wir die Naturkräfte beherrschen lernten, bevor wir Kenntnis unseres eigenen Selbst erlangten. Das ist der Grund dafür, dass verschiedene Erfindungen zur Vernichtung der Menschheit beitragen. Hätten wir uns selbst erkannt, bevor wir die Kontrolle über die Naturkräfte erlangten, dann hätten alle diese Erfindungen dazu beigetragen, uns zu erheben.

Alle Meister der frühen Zeit, Buddha, Nanak, Christus, Prophet Mohammed, fordern uns auf: 

Erkenne dich selbst!

Um uns selbst zu erkennen, müssen wir uns durch praktische Selbstanalyse über das Körperbewusstsein erheben.

Die Schriften sagen:

Lerne zu sterben, damit du zu leben beginnen kannst.

Christus sagte:

Es sei denn, dass jemand von Neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht betreten.

Nikodemus war ein sehr gebildeter Mann. Er kam zu Christus und sagte zu Ihm: 

Meister, wie kann ein Mensch wiedergeboren werden, wenn er alt ist? Kann er wieder in seiner Mutter Leib gehen und nochmals geboren werden?

Ihr werdet sehen, dass die intellektuellen Menschen kläglich versagen, wenn es um die praktische Seite geht.

Christus antwortete:

Bist du ein Meister in Israel und weißt das nicht? Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren wird, das ist Geist.

Von Neuem geboren zu werden bedeutet, sich durch praktische Selbstanalyse über das Körperbewusstsein zu erheben, damit man sich selbst und das Überselbst, das mit so vielen Namen benannt ist, erkennen kann.

Kabir sagt dasselbe:

Lerne hundertmal täglich zu sterben, nicht nur einmal.

Ihr müsst wissen, wie man sich über das Körperbewusstsein erhebt, damit ihr erkennt, wer ihr seid und was ihr seid. Intellektuell wissen wir so viel darüber, aber praktisch wissen wir wenig oder nichts. Es geht darum, sich über das Körperbewusstsein zu erheben, um das Innere Auge oder Einzelauge zu öffnen, um durch praktische Selbstanalyse das Licht Gottes zu sehen, Das wir vergessen haben. Es ist eine uralte Wissenschaft.

Alle Meister früherer Zeit waren mit diesen Tatsachen völlig vertraut, wir aber haben sie leider vergessen. Können wir uns über das Körperbewusstsein erheben? Können wir den Körper verlassen und dann zurückkommen? Das sind die Lehren, die fast alle Meister – ob Sie nun in dem einen oder anderen Land erschienen – den Menschen gaben.

Maulana Rumi sagte:

Meine lieben Freunde, lernt zu sterben, damit ihr Ewiges Leben erlangen könnt.

Das ist also nichts Neues, sondern etwas ganz, ganz Altes, das wir vergessen haben.

Der Meister sagt:

Ja, wir können diese Erfahrung zu den Füßen eines Kompetenten Meisters erhalten, so sicher wie zwei mal zwei vier sind; so wie König Janaka sie zu Füßen Ashtavakras in ganz kurzer Zeit erhielt.

Ich brauche auf dieses Thema nicht näher einzugehen. Die, die daran interessiert sind, das Rätsel des Lebens zu lösen, können kostenlose Schriften verlangen, die für alle hier zur weiteren Information bereitliegen. Um dieses Ziel zu erreichen, muss der Mensch ein ethisches oder moralisches Leben, welches das Sprungbrett zur Spiritualität ist, führen.

Christus sagte:

Selig sind, die reinen Herzen sind, denn sie werden Gott schauen.

Guru Nanak sagte:

Seid rein, damit die Wahrheit verwirklicht werden kann.

Wir verlangen so sehr nach der moralischen und intellektuellen Solidarität der Menschheit, haben aber bisher keinen Wert auf den Spirituellen Aspekt des Menschen gelegt, welcher der wichtigste ist, aber unbeachtet bleibt. Es ist ein verbindender Faktor, der durch die ganze Menschheit geht und ohne den alle unsere Versuche fehlschlagen und zusammenbrechen.

Auf meiner Reise durch England, Deutschland und die USA im letzten Jahr wurde ich gefragt:

Wie können wir die Gefahr eines Atomkriegs vermeiden?

Ich sagte den Zuhörern, dass wir sie dann vermeiden können, wenn wir nach dem leben, was die Schriften sagen. Wir wissen so viel von der Bergpredigt, den Zehn Geboten und dem Achtfachen Pfad des Buddha, wenn es darum geht, den anderen zu predigen. Seid Täter des Wortes und nicht Hörer allein – sonst betrügt ihr euch selbst. Reformer sind gesucht, die nicht andere reformieren, sondern sich selbst.

Lernt so zu leben, wie Judishtra, einer der fünf Pandos, Brüder. Es wird berichtet, dass die fünf Pandos einem Lehrer zum Unterricht unterstellt wurden.

Der Lehrer gab ihnen ein Buch, das mit den Worten begann: Sprich die Wahrheit; werde nicht ärgerlich usw. Vier der Brüder lernten das kleine Buch ganz auswendig. Als die Reihe an Judishtra kam, sagte er: Meister, ich habe einen Satz ‘Sprich die Wahrheit’ ganz gelernt und von ‘Werde nicht ärgerlich’ nur die Hälfte. Der Meister war wütend. Was soll ich dem König sagen? fragte er. In zwei oder drei Monaten hat er nur einen Satz gelernt und den anderen halb. Er schlug den Jungen – einmal, zweimal, dreimal. Dann sagte er: Warum sagst du nicht die Wahrheit! Judishtra antwortete: Ich sage die Wahrheit; ich habe den einen Satz ‘die Wahrheit zu sagen’ ganz gelernt, und den anderen ‘nicht ärgerlich zu werden’ zur Hälfte. Und jetzt sage ich dir nochmals die Wahrheit: Am Anfang war ich nicht ärgerlich, aber als du mich immer weiter schlugst, da wurde ich in meinem Herzen ärgerlich.

Solange wir noch nicht gelernt haben, so zu leben wie Judishtra, kann es in keinem Stadium unseres Lebens einen Fortschritt geben. Die Nahrung, die verdaut wird, gibt Kraft. Wenn wir das in die Praxis umsetzen, was wir gelernt haben, wird alle Gefahr eines Atomkrieges gebannt sein. 

Jetzt lasst uns sehen, was die Schriften zu unserer Führung sagen. Wir sind alle Verehrer derselben Gotteskraft, Die mit so vielen Namen benannt wird. Gott hat die Menschen – beseelte Körper – erschaffen. Unsere Seele ist umhüllt von Gemüt und Materie. Gott ist Allbewusstsein.

Wenn wir uns von der Gebundenheit an Gemüt und Materie befreien, erkennen wir, dass wir Bewusste Wesen, Seelen sind. Wir sind gleichsam Tropfen aus dem Meer des Lebens. Wenn wir uns selbst erkennen, indem wir uns vom physischen Körper trennen, dann begegnen wir der Welt von der Ebene der Seele aus. Wir besitzen also einen starken Hintergrund, auf den wir uns stützen können, nämlich Gottbewusstsein. Aber bisher haben wir nur nach den Geboten und Verboten gelebt. Wir sollen dies und jenes tun, oder dieses und jenes nicht tun; haben aber in Wirklichkeit keinen starken Hintergrund, auf den wir uns stützen können.

Von Geburt aus ist keiner ein Hindu oder Mohammedaner, und ich darf hinzufügen, Christ oder Anhänger einer anderen Religion.

Das sagte Guru Nanak.

Die Israeliten kamen zu Christus und fragten Ihn:

Unser Kaiser verlangt einen Tribut von uns, was sollen wir tun?

Er forderte sie auf, Ihm eine Münze zu bringen, und als die Münze gebracht wurde, fragte Er, welche Inschrift sie trage. 

Als sie zur Antwort gaben, es sei die des Kaisers, sagte Er:

Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist. Eure Seelen aber sind von Gott, so gebt sie Gott.

Alle Meister hatten denselben Standpunkt. Da der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist, wurden die sozialen Institutionen der verschiedenen Religionen zur Erhebung der Seele geschaffen, damit sie ihren irdischen Aufenthalt friedlich verbringen und sich der ganzen Menschheit gegenüber als hilfreich erweisen kann, als auch um ihr zu helfen, sich selbst und das Überselbst – Gott – zu erkennen. Gott kann nicht durch den Intellekt, die nach außen gerichteten Sinne oder Pranas erkannt werden. Nur die Seele allein kann Gott erkennen – das ist der Grund, weshalb alle früheren Meister betonten: 

Erkenne dich selbst.

Darüber hinaus gaben Sie zwei wichtige Gebote:

  1. Liebe Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft, und

  2. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Denn Gott wohnt in allen Herzen.

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Erläuterung: 1) Gemüt: Der Ausdruck entspricht in seiner Verwendung dem englischen Ausdruck ‚Mind‘.

Das Gemüt hat vier Aspekte oder Eigenschaften; nämlich

1) Chit – es kann mit einem See verglichen werden, in den unmerklich die ganze Zeit über zahllose Ströme von Eindrücken einströmen.

2) Manas – die Denkfähigkeit des Gemüts, die über solche Eindrücke nachsinnt, welche sich an der Oberfläche des Sees in Form von Wogen und Wellengekräusel erheben, gerade wie die Brise des Bewusstseins über die Wasser des Sees von Chit weht und nacheinander eine endlose Kette von Gedanken in Bewegung setzt.

3) Buddhi oder Intellekt – die Fähigkeit des Verstandes, des Schlussfolgerns, der Unterscheidung und schließlichen Entscheidung, nachdem das durch Manas vorgebrachte Für und Wider erwogen wurde. Es ist der große Schiedsrichter, der die Probleme des Lebens, die auf ihn zukommen, zu lösen sucht.

4) Ahankar oder Ego – es ist die sich selbst behauptende Fähigkeit des Gemüts, denn es liebt, für alle vollbrachten Handlungen anerkannt zu werden und schafft sich somit eine reiche Ernte von Karmas, die einen auf dem gewaltigen Rad des Lebens ständig hinauf und wieder abwärts bewegen.

Spirituelles Elixier (Übersetzung aus der
englischsprachigen Erstedition, 1967) –
Teil I: XII. Das Gemüt,
von Kirpal Singh, 1894–1974