VIII

Ein ganzes Jahr liegt vor euch

1. Januar 1974

Kirpal Singh: Beginnt das neue Jahr mit neuem Leben – mit frischem Leben … Überprüft das letzte Jahr und euren jetzigen Stand, verglichen mit dem, wie ihr das vergangene Jahr begonnen habt. Wie steht es jetzt um euch? Besser als zu jenem Zeitpunkt? Macht ihr Fortschritte, gemessen an damals?

Die allgemeine Antwort: Ja.

Kirpal Singh: Das ist gut. Das ist es, was nottut.

Frage: Meister, könnt Ihr uns bitte etwas aus Eurer Kindheit erzählen?

Kirpal Singh: Was kann es euch nützen? Nehmt an, ich sei ein ungezogener Junge gewesen – was dann? (Lachen.) Werdet ihr es nachahmen? Jeder muss seinen Weg gehen, seinen eigenen Lauf nehmen, versteht ihr? Natürlich haben einige ihren Hintergrund, aber das spielt keine Rolle; jene, die jetzt beginnen, gehen ihren Weg vorwärts, um den ersten Preis zu gewinnen. Sie können schneller sein und zuerst ans Ziel gelangen. Sie können jetzt anfangen. Das hängt von der Ergebenheit ab, von der Regelmäßigkeit und eurer vorherrschenden Neigung. Warum nicht anderen ein Beispiel geben?

So haben jene, die den menschlichen Körper bekamen, das angestammte Recht – das Erbrecht! – Gott zu erkennen, das ihnen niemand, nicht einmal die Regierung, vorenthalten kann. Es kommt hauptsächlich auf unsere Ergebung und unser hervorstechendes Verlangen an – ein Verlangen nicht nach den weltlichen Dingen, sondern nach Gott. Das ist die vornehmste und ganz private, persönliche Arbeit, die ihr tun müsst. Die meisten von uns sind durch eine andere Betätigung in Anspruch genommen. Nehmt das Kreuz täglich auf euch, und erhebt euch über das Körperbewusstsein. Dort beginnt das Alphabet auf dem Weg zu Gott.

Macht euch eine Aufzeichnung von dem, was ihr heute, am ersten Tag des Jahres, seid. Und vergleicht am Ende des Jahres, wie weit ihr euch entwickelt habt. Wenn ihr es ein ganzes Jahr so haltet … in der Schule braucht man ein ganzes Jahr, um in die nächste Klasse versetzt zu werden, nicht wahr? Freilich muss man dort fünfeinhalb Stunden dafür arbeiten und zwei oder drei Stunden zu Hause. Wer regelmäßig ist – die, welche nicht müßig dasitzen –, wird in die nächste Klasse kommen. Nun liegt ein Jahr vor euch. Lasst uns sehen, welche Fortschritte ihr in diesem Jahr macht. Von da, wo ihr jetzt steht, solltet ihr wenigstens eine Klasse zur nächsthöheren aufsteigen. Arbeitet also dafür! Es ist ein ganzes Jahr.

Arbeitet so, dass ihr mit dem Meister im Innern zu den höheren Ebenen gelangen könnt. Habt ein Ideal vor euch, das ist alles.

In den heiligen Schriften der Moslems sagt der Herr:

Gott ändert das Leben eines Menschen nicht, es sei denn, er selbst will sich ändern.

Wenn dies euer Ideal ist, wird euch Gott helfen. Er hilft denen, die sich selbst helfen. Er verlangt nicht sehr viel von euch. Oder ist es sehr viel? Zu viel? Ihr habt ein ganzes Jahr. Macht von heute an regelmäßig weiter. Setzt so viel Zeit ein wie nur irgend möglich, bei gebührender Beachtung eurer anderen Pflichten, so dass ihr das Ideal, welches ihr anstrebt, selbst sehen könnt – und damit ihr ein Ziel habt.

Ich hoffe, dass ihr dies im Auge behaltet … oder scheut ihr euch davor? Seid ihr entschlossen, für das Ideal einzutreten, oder nicht? Warum scheut ihr euch davor? (Er lacht.) Wie ich euch sagte, hilft Gott jenen, die sich selbst helfen.

Im Koran sagt Gott auch:

Zu jenen, die ihr Leben nicht ändern wollen,

sagt selbst Gott:

Ich kann es nicht für sie tun.

So richtet euch ab heute nach einem solchen Programm. Ihr könnt dann sehen, wie dieser Traum lebendig wird.

Von einem König namens Mahmud, der Indien siebzehnmal überfiel und ausplünderte, dabei Witwen und Waisen zurückließ und alle Rubine, alles Gold und andere Schätze des Landes mitnahm, wird erzählt, dass er im letzten Augenblick seines Lebens seine Minister bat, alles was er aus Indien herbeigeschafft hatte: die ganze Beute – Gold, Rubine, Silber – um ihn herum aufzuhäufen und ihn eine Weile hindurchgehen zu lassen, damit er sehen konnte, wie viel er zusammengetragen hatte. Dies taten sie. Er blickte auf die große Menge an Gold und Smaragden und vergoss Tränen.

Einer der Minister sagte zu ihm: Nun, Majestät, alle müssen gehen; es ist nichts Neues in Eurem Fall. Mahmud erwiderte: Gut, erinnere mich daran, wenn ich zum Palast zurückkehre. Und der Minister dachte: Ich werde eine sehr große Belohnung erhalten. Als sie zurückkamen, sprach ihn der Minister an: Herr, Ihr batet mich, Euch zu erinnern. – Jawohl, befahl er, Schickt ihn für den Rest seines Lebens ins Gefängnis. – Was? Welches Unrecht habe ich begangen? Der König sagte: Warum hast du mich nicht damals erinnert, als ich Witwen und Waisen zurückließ und die Menschen völlig mittellos machte?

So sage ich euch jetzt, seht (Er lacht) – meine Aufgabe ist getan. Ich sagte es euch in vollem Ernst – nicht im Spaß – nach einer gründlichen Überlegung, reiflichem Bedenken. Habt ihr das alles gehört? Es ist eine rechtzeitige Ankündigung, wohlgemerkt! So ist dies das einzige, was euch begleiten wird. Der Körper geht nicht mit uns. Aber wenn ihr Vorsorge getroffen habt, dann sagt es mir bitte auch! (Er lacht.) Das ist eure Arbeit – eure eigentliche, persönliche Arbeit. Dies ist die Arbeit, die ihr mit euch nehmen könnt; sonst nichts. So hat der, welcher das ganze Jahr hindurch regelmäßig gewesen ist, keine Furcht, wenn nach einem Jahr die Zeit der Prüfung kommt. Und jene, die es nicht waren? – Der letzte Monat ist da, und sie werden sich Tag und Nacht verzweifelt abmühen! Das ist nutzlos! Warum nicht jetzt beginnen? Ihr habt ein ganzes Jahr vor euch, ist es nicht so? Ein Jahr – 12 Monate – auch nicht einen Tag weniger. Heute ist der erste, nicht wahr? Fangt gleich an.

Habt immer das höchste Ideal vor euch, achtet darauf. Seid keine Gliederpuppe. Ihr möchtet 3 Meter hoch springen – dann habt das Ziel von 3 Metern vor euch. Gelingt euch das nicht, so schafft wenigsten 1,20 m oder 1,50 m.

Hafiz sagt:

Nun, tut etwas, aber strebt das Höchste an

– nicht sechzig oder neunzig Zentimeter. Nehmt euch das höchste Ziel vor, und ihr werdet hoch springen, wenn nicht ganz so hoch, so doch wenigstens annähernd. Haltet euch immer das höchste Ideal vor Augen, dann werdet ihr gewiss etwas tun. Wenn ihr keine sehr hohen Ideale habt – wenn es nur durchschnittliche sind wie bisher, – werdet ihr bleiben, wo ihr seid. Ihr habt den menschlichen Körper bekommen, seht ihr.

Nand Lal, ein großer Verehrer des zehnten Gurus, sagt:

Ein Mensch verdient wirklich, Mensch genannt zu werden, wenn er Gott erreicht.

Habt ihr das zum Ideal, dann werdet ihr es natürlich im Vergleich viel besser machen.

Der Menschenkörper bedeutet, dass das höchste Ideal ist, Gott zu kennen, ist es nicht so? Nicht mehr und nicht weniger. Bei allem, in der Beziehung zu allen, zahlt ihr Schulden ab – als Ursachen und Wirkungen des Karmas; doch habt jenes Ideal. Es ist bedauerlich, dass wir kein Ideal haben. Das Ideal sollte das höchste sein – das erhabenste! Wenn wir dieses Jahr mit dem erhabenen Ideal beginnen, so denke ich, werdet ihr es erreichen. Schließlich waren jene, die Gott fanden, auch Menschen. Denkt ihr, sie fielen vom Himmel herunter? Sie wurden auf die gleiche Weise geboren wie ihr – oder ich.

Die Menschen beten … zwei Schüler gingen zur Schule; sie hatten sich verspätet. Einer begann zu beten und zu laufen. Der andere setzte sich am Weg nieder und betete: Gott, lass mich rechtzeitig hinkommen. Welcher von beiden wird es schaffen? Der Erste läuft zugleich, mag er auch vier oder fünf Minuten zu spät kommen. Aber der, welcher am Weg sitzt und betet: O Gott – das wird nicht helfen. Wenn Gott sieht, dass ihr eilt, wird Er euch auch einen Auftrieb geben, versteht ihr?

Maulana Rumi erzählte von einer Taube, die zu dem Pilgerort Mekka flog. Wie ihr wisst, fliegen Tauben etwa 100 oder 130 km in der Stunde.

Und sie sah eine Maus, die sehr schnell lief, und fragte:

Was machst du?

– Nun, ich möchte zum Pilgerort Mekka kommen.

Sie hatte Mitleid mit ihr; sie sah sie laufen und ihr Bestes tun. Was tat sie? Sie nahm sie in ihre Krallen.

Wer wird sich um euch kümmern, wenn ihr immer am Weg liegt? – So seid nicht bange, ihr werdet Hilfe bekommen. Der Meister sieht, dass auch ihr euer Bestes tut.

Unser Meister pflegte zu sagen:

Ich gehe während der Nacht umher, um jedermann Barmherzigkeit zu erweisen; aber alle schlafen. Dennoch gibt es einige, die auf mich warten.

Er geht umher, um Seine Gnade auszuschütten, aber niemand ist da, sie zu empfangen. Seht, so geht Er während der Nacht von Ort zu Ort, indem Er gleichsam die Pille des ewigen Lebens mit Sich bringt. Er verteilt sie; und die Augen, welche schläfrig sind, werden allein gelassen. Ich führe diese Dinge nur an, um euch neuen Ansporn zu geben, versteht ihr? Warum also wie eine Gliederpuppe sein?

Dies ist eine Botschaft zum neuen Jahr für euch. Gott hilft auch jenen – wie kann es anders sein, die sich selbst helfen, so gut sie nur können; und solchen, die sich nicht selbst helfen…?

Diese Botschaft ist: Lasst uns sehen, wie weit ihr am Ende des Jahres gekommen seid – so Gott will, natürlich. Wenn ihr am Leben bleibt, dann – wer weiß? Der Mensch kann jeden Augenblick dahingerafft werden. Je eher einer ans Ziel gelangt, desto besser. Habt ihr das Reiseziel einmal erreicht, könnt ihr euch hinlegen; aber was ist mit dem, der gleich zu Beginn daliegt? –

Vergesst dies nicht. Ich bin in die Aufgabe von Mahmud vertieft. (Er lacht.) Nun gut. Geht frühstücken. Gott segne euch.

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Anmerkung: Dieser Satsang-Text gibt eine Neujahrsansprache wieder, die Kirpal Singh am 1. Januar 1974 hielt. Im Wissen um das bevorstehende Ende Seines physischen séjours ermahnte Er in dieser Ansprache die versammelten Initiierten sehr eindringlich, sich immer am höchsten Ideal der Selbst- und Gottverwirklichung zu orientieren und sich mit aller zu Gebote stehenden Kraft für das Erreichen dieses Ziels einzusetzen.