Kirpal Singh

Rundschreiben Nr. 71

Wie man Empfänglichkeit entwickelt - Teil II

5. November 1969

Übersetzung aus englischen Vorlagen durch Schüler Kirpal Singhs

Meine Lieben,

in meinem Rundschreiben vom 13. Juni wurde ausführlich erläutert, welche Verantwortlichkeiten jeder Initiierte hat, worin die Wahre Bedeutung der Initiation liegt und welches Leben derjenige führen sollte, der auf dem Pfad fortschreiten möchte.

Des Weiteren möchte ich ein paar Worte über "Sadachar" oder rechtschaffenes Leben sagen, ohne welches einer nicht in der Stille seines eigenen Selbst sitzen und mit konzentrierter Aufmerksamkeit die innere Finsternis durchdringen kann.

Um Wahren spirituellen Fortschritt zu erreichen, muss man "ein gutes Leben" führen, ich möchte sogar sagen "gottgleiches Leben". Vorher kann kein größerer innerer Fortschritt gemacht werden. Gleichzeitig muss man ganz pflichtbewusst sein im Hinblick auf die regelmäßige Meditationen, da beides wesentlich ist. Ein gutes Leben zu führen, ohne seinen spirituellen Übungen Zeit zu widmen, wird die Aufmerksamkeit nicht zum Sitz der Seele erheben. Ähnlich wird einer nichts erreichen, wenn er zwar Stunden für die Meditation einsetzt, aber nicht die schlechten Gewohnheiten ausmerzt und an ihrer Stelle gute entwickelt. Reinheit des Lebens ist für fruchtbare Meditationen wesentlich.

Was ist ein "gutes Leben"? Es ist gute Gedanken, gute Worte und gute Taten zu unterhalten. "Sadachar" ist ein Leben fortgesetzter Rechtschaffenheit von Anfang bis Ende. Jeder Initiierte sollte gelegentlich innehalten und prüfen, in welchem Maße er darin erfolgreich war, sein Leben in Übereinstimmung mit den Geboten des Meisters zu formen. Wir sprechen von Gott, hören von Gott und lesen über Gott, aber nur selten praktizieren wir Gott in unserem täglichen Leben. Die Praxis der Gegenwart Gottes ist es, auf die es ankommt und diese Gegenwart kann uns nur dann bewusst werden, wenn wir ein gottgleiches Leben führen. Es gibt keine Abkürzungswege auf dem Pfad zurück zu Gott.

Die Wahrheit ist höher als alles andere, aber noch höher ist die Wahre Lebensweise. Die Wahrheit und das Wahre Leben schließen einander nicht aus, sondern sind beisammen. Das eine ergänzt das andere und ihr Zusammenspiel bildet das gottgleiche Leben. Einer, der die Wahre Lebensweise praktiziert, wird immer seinen Unterhalt im Schweiße seines Angesichts verdienen und sich selbst und seine Familie von recht erworbener Nahrung ernähren, die aus Früchten, Gemüse, Nüssen, Getreide und erlaubten Molkereiprodukten besteht. Des Weiteren wird er offen und ehrlich im Umgang mit anderen sein.

Diese drei Aspekte des Verhaltens sind unerlässliche Hilfen für die Wahre Lebensweise. Man kann seinen spirituellen Fortschritt nach dem Maß an bewusster Kontrolle abschätzen, das man über sein Denken erlangt hat. Wenn einer bis zu einem gewissen Ausmaß diese Kontrolle erreicht hat, wird er nicht durch äußere Umstände, Beanspruchungen und Anforderungen beherrscht oder erregt, die ihm durch seine Umgebung auferlegt werden. Wenn sich einer nicht darüberstellen, nicht die volle Kontrolle über die Umstände seiner äußeren Umgebung besitzen und sie in Ruhe handhaben kann, wird er niemals fähig sein, auf dem Weg der Spiritualität Erfolg zu haben.

Somit ist es wichtig, dass ihr zuerst lernt, mit eurer äußeren Umgebung, bestehend aus eurem Leben daheim und/oder bei der Arbeit, fertigzuwerden. Wir werden nach unseren Taten beurteilt, nicht nach unseren Worten. Alle unsere Handlungen kommen aus der Überfülle unseres Herzens, seien sie physischer, emotionaler oder intellektueller Art. Das Gemüt ist ein Verzeichnis und ein Spiegel, der alles reflektiert. Es zeigt wahrhaftig den inneren Zustand eines Menschen an. Ein Maßstab des Erfolges, inwieweit ihr mit eurer äußeren Umgebung zurecht kommt, wird ein allmähliches Bewusstwerden dessen sein, dass ihr Herr eurer Gedanken werdet.

Damit dieser Erfolg erzielt wird, habe ich das Tagebuch zur Selbstprüfung eingeführt. Aber wie viele führen das Tagebuch wirklich genau? Sehr wenige, wenn überhaupt einer, muss ich leider sagen. Würde aus dem Führen des Tagebuchs Vorteil gezogen, dann würdet ihr eine Wandlung in eurem Verhalten und in eurer Denkweise feststellen und folgedessen würdet ihr einen gewaltigen spirituellen Fortschritt zu verzeichnen haben. Der Zweck des Tagebuchs ist es, euren inneren Zustand wiederzugeben, damit ihr wisst, wo ihr steht. Es ist ein Werkzeug, das euch, wenn ihr es richtig nutzt, zu einem Gefäß macht, das für die Offenbarung des Meisters in euch geeignet ist. Ihr solltet genauso viel Hingabe und Aufmerksamkeit für das Führen eures Tagebuchs aufwenden, wie ihr sie für eure Meditationen einsetzt. Folgende Punkte werden euch das rechte Verstehen für den erhabenen Zweck geben, der dem zugrunde liegt und von den Vorteilen, die man haben kann, wenn man das Tagebuch führt:

  1. Wenn ihr euch am Ende des Tages eure Fehltritte in Gedanken, Worten und Taten ins Bewusstsein ruft, in welche Richtung wird dann euer Gemüt gelenkt? Natürlich geht es zu dem, der von euch verlangt hat, es zu führen. Somit ist das Führen eines Tagebuchs auch ein Denken an den Meister. Und wenn ihr euch Seiner erinnert, denkt Er an euch und zu gegebener Zeit werdet ihr Empfänglichkeit für Ihn entwickeln, wo immer ihr seid. Ohne die Empfänglichkeit kann es keinen Wahren spirituellen Fortschritt geben und das tägliche Führen des Tagebuchs voller Aufmerksamkeit und mit dem echten Verlangen, den darin aufgezeichneten Fehlern befreit zu sein, hilft viel beim Entwickeln der Empfänglichkeit.

  2. Mir ist bekannt, dass in der christlichen Religion jene, die es wollen, vor dem Priester ein Bekenntnis ihrer Fehler ablegen können. Sie gehen wöchentlich oder einmal im Monat zu ihm, doch im allgemeinen nicht öfter als einmal wöchentlich. Wenn ihr aber die Tagebücher führt, legt ihr täglich ein Bekenntnis ab. Legt eure Bekenntnisse in den verschiedenen Spalten offen und ehrlich ab, damit ihr wisst, wo ihr steht und euch berichtigen könnt. Der beste und einfachste Weg, euch vom Übel zu befreien, ist das Verlangen davon loszukommen und, wie oben schon gesagt, liebevoll an den Meister zu denken, wenn ihr eure Eintragungen macht.

  3. Zuletzt, aber genauso wichtig wie das Vorhergehende ist, dass man sich beim Führen des Tagebuchs nicht erlauben sollte, sich lediglich auf den Bericht von Fehlern zu beschränken, was leicht mechanisch werden kann, wenn es mit wenig oder gar keiner Aufmerksamkeit gemacht wird. Der eigentliche Zweck, diese Fehler selbst niederzuschreiben, besteht darin, sie auch auf diese Weise bewusst zu machen, so dass sie ausgemerzt werden können. Um sie auszumerzen ist es jedoch nicht genug, einen oder zwei Äste abzuschneiden; ihr müsst die Verursachung ausrotten. Wenn ihr euch einmal eines Fehlers bewusst werdet, solltet ihr fähig sein, ihn bis zu einer bestimmten Situation zu verfolgen. Diese Situation wird euch helfen, den Grund der Schwäche in euch herauszufinden, an deren Stelle dann Kraft zugeführt werden muss. Nach und nach wird auf diese Weise die Grundursache der Fehltritte von selbst behoben.

Ein weiterer wichtiger Aspekt "guten Lebens" betrifft das äußere Verhalten in der Gesellschaft, in die man hineingeboren ist: es sollte (ihre Bedingungen entsprechend) natürlich sein. Sich aufzuspielen oder eine gekünstelte Haltung einzunehmen wird nicht verlangt. Es gibt einige unter den Lieben, die glauben, die äußeren Symbole der Kleidung und des Namens annehmen zu müssen, welche die Gesellschaft kennzeichnet, aus der der Meister kommt - in der Meinung, dass Ihm dies gefällt. Das Leben des Geistes erfordert keine Änderung der äußeren Lebensweise in Hinblick auf Namen, Erscheinung oder Kleidung. Meister kommen nicht, um soziale Ordnungen zu schaffen oder aufzuheben. Ihre Mission ist allein, dass Gesetz Gottes zu erfüllen und das heißt, Seine verlorenen Kinder zu erlösen. Sie verlangen nur, dass wir uns innerlich umwandeln, so dass wir arm im Geiste und rein im Herzen sind. Wir sollten Wahre Demut entwickeln, die weder unterwürfig noch anmaßend ist. Diese Dinge sind es, die dem Meister gefallen und uns gegenüber der gnädigen Meisterkraft, die oben wirkt, empfänglich machen. Wenn ihr ein Leben der Demut und Einfachheit führt, werdet ihr Frieden im Herzen haben. Was gibt es alsdann auf der Erde, das euch gehört? Warum an die Nichtigkeiten der Welt gebunden sein, wenn die Schätze der Gottheit in euch liegen? Wenn ihr für Gott lebt, werden sich alle Dinge nicht nur in spiritueller, sondern auch in materieller Hinsicht zu eurem Besten auswirken. Dies ist das fundamentale Gesetz Gottes, das von allen erkannt werden kann, welche das Wahre Leben praktizieren.

Der Lohn Wahren Lebens ist, dass ihr für die Meisterkraft, die über euch wirkt, empfänglich werdet. Es kann kein wirklicher Fortschritt gemacht werden, solange diese Empfänglichkeit nicht entwickelt ist. Durch die Empfänglichkeit wird ein Schüler genauso geformt, wie es der Meister ist; aber ehe man empfänglich werden kann, muss man das rechte Verstehen haben. Dies wiederum erhält man durch den Meister: entweder mündlich beim Satsang, der durch Ihn persönlich gehalten wird, oder durch Seine Schriften in Form von Büchern und Rundschreiben für diejenigen, die in der Ferne leben. Rechtes Verstehen, mündlich oder durch die Schriften erlangt, bildet erst ein Drittel der Lehren des Meisters; die anderen zwei Drittel erreicht man, wenn man Empfänglichkeit entwickelt.

Christus sagte:

Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibet und ich in Ihm, der bringt viel Frucht, denn ohne mich könnt ihr nichts tun.

Das erste Zeichen, dass ein Zweig empfänglich ist gegenüber dem lebensspendenden Saft, der sich im Körper des Weinstocks erhebt, sind die Blüten und das zweite sind die Früchte, die er trägt. Wenn sich nun ein Zweig von dem lebensspendenden Saft löst, was ist dann...? Er wird ein trockenes Stück Holz werden, dass nur noch für die Baumschere des Gärtners taugt. Der Wein erhält seine Nahrung von den Wurzeln, die in den nährenden Boden eigebettet und darin ineinander verflochten sind. Daher erhält der Zweig, der empfänglich oder mit dem Körper des Weinstocks verbunden ist, dieselbe Nahrung. Auf ähnliche Weise ist der Meister in der Gottheit verwurzelt und mit Ihr verflochten. So kann auch der Schüler, der an den Meister gebunden oder Ihm gegenüber empfänglich wird, nicht nur durch die lebensspendende Kraft des Meisters genährt werden, sondern tatsächlich durch seine Wurzeln hindurchgelangen, bis er auch in der Gottheit eingebettet und in Sie verflochten ist. Und dies kann nur durch das Entwickeln der Empfänglichkeit erreicht werden. Der Versuch, die Gottheit zu gewinnen, ohne gegenüber der Meisterkraft empfänglich zu sein, ist voller Gefahren.

Maulana Rumi sagt:

Gehe nicht nach innen, ohne einen Meister, denn dort lauern viele Gefahren.

Sollte es sich ergeben, dass einer ohne die Empfänglichkeit für die Meisterkraft über das Körperbewusstsein gelangt, wird er in den niederen Astralebenen hoffnungslos verloren sein und grosse Gefahr laufen, durch die vielen Manifestationen der negativen Kraft getäuscht zu werden. Es gibt Beispiele, wo selbst große Rishis gefallen sind, weil sie auf ihre eigene Kraft gebaut haben, die sie über die Gefahren hinwegbringen sollte, welche in den inneren Bereichen vielfach gegeben sind.

Die Empfänglichkeit ist somit für den Erfolg in allen weltlichen und spirituellen Lebensphasen von Bedeutung. Sie kann erlangt werden, wenn man sich das rechte Verständnis, wie es oben vermittelt wurde, zu eigen macht. Erstens, man muss ein gottgleiches Leben führen; zweitens, die spirituellen Tagebücher müssen genau geführt werden, wie bereits erklärt, und drittens, man muss lernen Empfänglichkeit zu entwickeln. Wenn ihr in den ersten zwei Punkten erfolgreich seid, wird der dritte von selbst kommen.

Mit aller Liebe und besten Wünschen,
herzlich Euer

Kirpal Singh


Fußnote: