Kirpal Singh

Der Käfig der Seele

Auszug aus einem Brief von Kirpal Singh an einen New Yorker Schüler, veröffentlicht in der englischsprachigen Sat Sandesh Ausgabe September 1970

Der Mensch hat sich selbst so sehr in das Gemüt und die nach außen gehenden Kräfte verstrickt, dass seine Befreiung von ihnen nur mit großer Mühe und Ausdauer erreicht werden kann. Seine Lage gleicht gewissermaßen der eines Vogels, welcher viele Jahre in einem Käfig gehalten wurde. Selbst wenn man die Tür des Käfigs öffnete, würde der Vogel nur mit Widerwillen herausfliegen. Stattdessen wird er von einer Seite des Käfigs zur anderen flattern, sich mit den Krallen am Drahtgitter festhalten; er möchte nicht frei sein und durch die offene Tür hinausgelangen.

Desgleichen wurde die Seele dem Körper und den nach außen gehenden Kräften so verhaftet, dass sie sich an äußere Dinge klammert und sie nicht loslassen will. Sie möchte nicht durch die Tür fliegen, die vom Meister bei der Heiligen Initiation geöffnet wurde und an deren Schwelle die Strahlende Form des Meisters geduldig wartet, um das Schülerkind zu empfangen. Wahre Schülerschaft fängt erst an, wenn man das Körperbewusstsein überschritten hat.

Von da ab wird sich der Schüler nicht nur wohlfühlen, sondern beginnen, die Freude und Seligkeit zu erfahren, die ihn im Jenseits erwartet. Er wird die zauberhafte, Strahlende Form des Meisters zum Begleiter haben, Der immer zur Stelle ist, die so nötige Führung zu geben, damit man die Fallgruben auf dem Weg umgeht. Bis dahin ist man sozusagen ein Schüler auf Probe, einer Probe jedoch, die nicht abgebrochen werden kann. Während dieser Bewährungszeit wird die Seele einiges Unbehagen empfinden. Sie hat sich mit dem Schmutz der Sinne so sehr befleckt, dass sie ihre ursprüngliche Herzensreinheit verloren hat und sich darum nicht dafür eignet, aus dem Gefängnis des Körpers erhoben zu werden.

Obwohl die Tür geöffnet wurde, ist die Seele den Dingen der äußeren Welt so versklavt, dass sie gar nicht frei sein möchte. Erst wenn sie beginnt, ihre einstige Reinheit des Herzens und Geistes wiederzugewinnen, will sie endlich von den Begierden des Fleisches und äußeren Bindungen frei werden. Der liebende Meister sucht dem Schülerkind alles mögliche Ungemach zu ersparen, indem Er verständlich macht, was die Laster sind, die es zu meiden gilt, und welches die Tugenden, die entwickelt werden müssen, um diese Reinheit wiederzuerlangen.

Unglücklicherweise dringen die Worte des Meisters sehr häufig nicht ein, und wenig oder gar nichts wird vom Schüler unternommen, seinen Lebenswandel zu verbessern. Deshalb muss die Meisterkraft strengere Maßnahmen ergreifen, um dem Schüler die Bedeutung der wörtlich erläuterten Wahrheiten klarzumachen. Daher rühren die Beschwerlichkeiten, welche die Lieben in ihrem täglichen Leben manchmal zu spüren bekommen. Wenn den Geboten des Meisters unbedingter Gehorsam geleistet würde, hörten alle Schwierigkeiten und alles Unbehagen auf. Macht sich ein Kind so schmutzig, dass der Mutter, um es säubern zu können, nichts anderes übrigbleibt, als eine Scheuerbürste zu benutzen, kann man da sagen, das Kind fühlt sich während dieser Scheuerprozedur wohl? Dies wird erst der Fall sein, wenn das Scheuern beendet und es wieder rein und sauber ist.

Denen, die dem Meister nachfolgen, gewährt Er immer Hilfe und Schutz. Er kümmert Sich in jeder Beziehung um ihr äußeres und inneres Wohlergehen; selbst um die Folgen von Rückwirkungen aus der Vergangenheit – für den Galgen ein gewöhnlicher Nadelstich: soviel Zugeständnis wird gemacht. Wie die Mutter alles ihres Kindes wegen opfert, so tut auch der Meister alles für Seine Kinder. Der Anhänger lässt sich bestimmt nicht einmal träumen, wie Sich der Meister um ihn kümmert. Die Ihm nachfolgen, erfüllt Er mit Seinen eigenen Gedanken, mit Seinen eigenen Lebensimpulsen. Wenn wir an Ihn denken, denkt Er an uns, von ganzem Herzen und von ganzer Seele. Er ist nicht der Körper. Er ist das Personifizierte Wort, das Fleisch gewordene Wort. Um den vollen Nutzen von der Meisterkraft abzuleiten, muss der Schüler Empfänglichkeit entwickeln. Es ist unmöglich, Empfänglichkeit zu entwickeln, solange den Geboten des Meisters nicht unbedingter Gehorsam geleistet wird. Wenn ihr jedoch auf sie achtet, ist das ein Zeichen, dass eure Liebe zu Ihm wächst, und je mehr eure Liebe für Ihn zunimmt, desto größer wird eure Empfänglichkeit.

Wenn ihr diese Empfänglichkeit zu entwickeln beginnt, wird alles Unangenehme schwinden, und ihr werdet den Pfad wirklich in der festen Zuversicht gehen, dass ihr auf dem rechten Weg seid, in der liebevollen Gemeinschaft von Einem, Der Seine Größe und Macht bei jedem Schritt mehr und mehr enthüllt, bis ihr feststellt, dass fürwahr Gott Selbst euer Führer und Ratgeber ist, Der euch nie verlassen wird, bis Er euch sicher zum Wahren Haus des Vaters zurückgebracht hat.

Während ihr auf dem Weg seid, ist eine der Hauptaufgaben des Meisters, das frühere Karma des Schülers abzuwickeln. Nur durch den bewussten Kontakt mit dem Tonstrom werden die Karmas verflossener Lebensläufe verbrannt. Dieser Vorgang beginnt bei der Heiligen Initiation, wo der Schüler eine Verbindung mit dem Licht- und Tonprinzip oder Der Sich zum Ausdruck bringenden Gotteskraft erhält. Um die Eröffnung eines neuen Kontos schlechter Handlungen zu vermeiden, wird ihm eingeschärft, ein reines Leben zu führen und alle ihm anhaftenden Unvollkommenheiten durch tägliche Selbstprüfung auszumerzen. Dies ist der erhabene Grundsatz der Tagebuchführung, die vom Schüler verlangt wird, um sich der Verfehlungen bewusst zu werden, die ihn auf seinem Weg zu Gott behindern.

Das Ego ist das Selbstbehauptungsprinzip im Menschen, das ihn empfinden lässt: 'Ich tue dies' oder 'ich tue das'. Wenn man sich über das Körperbewusstsein erhebt, sich wirklich erkennt und ein Bewusster Mitarbeiter des Göttlichen Plans wird, der sieht, dass nicht er der Handelnde, sondern nur eine Marionette in den Händen Gottes ist, hat man sich für seine Handlungen nicht länger zu verantworten. Man wird ein Jivan Mukta oder eine freie Seele. Das Ich im Menschen ist Teil der großen Täuschung, an der er krankt. Es enthält sich erst dann des Handelns oder löst sich auf, wenn der Schüler einen hohen Grad von Reinheit erlangt hat, durch die sein ganzes Tun den Meister in ihm widerspiegelt.

Er wird dann wie Christus erklären:

Ich und der Vater sind Eins.